Wichtige Sportrechte, TV-Prominenz, ein eigener linearer Sender – wahrscheinlich dauert es nicht mehr lange, bis man in München den nächsten Bewegtbildhammer auspackt. Und ankündigt, eigene Nachrichten unter dem Namen "Prime News" zu starten: mit regelmäßiger Raumfahrt-Rubrik, freundlich unterstützt von Blue Origin, und inhaltlichen Schwerpunkten auf "persönlichen Freiheiten" und "freien Märkten". Die Kulturnachrichten würden nahtlos in die Bücher-"Bestseller-Charts" der Woche übergehen, bevor Alexa die Wettervorhersage präsentiert: "In Berlin heute 23 Grad und sonnig – übrigens, Ihre Sonnencremevorräte sind fast aufgebraucht, jetzt direkt nachbestellen." Zum Abschluss käme dann der kurzweilige Rausschmeißer "What's in my Cart?", in der Promis ihre jüngsten Bestell-Errungenschaften präsentieren.

Ich scherze, natürlich. Aber nur so halb.

Denn spätestens seitdem der Tech-, Versand-, und Entertainmentriese Amazon mit seiner deutschen Dependance am 17. April einen linearen TV-Kanal namens "Prime" gestartet hat, stellt sich die Frage: Wo will der Konzern im hiesigen Bewegtbildmarkt eigentlich hin?

Service für ein Lean-Forward-müdes Publikum

Natürlich könnte man die jüngste Initiative einfach so lesen, wie sie präsentiert wird: als einfachen Service für Lean-Forward-müde Mitglieder des hauseigenen Prime-Programms. Die kommen derzeit nämlich als einzige in den Genuss des linearen Content-Schaufensters, welches Amazon auf seiner Plattform aktuell so gut versteckt, dass man schon sehr genau danach suchen muss (in der Prime Video App unter der Rubrik "Live-TV", dann im EPG unter "Kürzlich hinzugefügte Sender" gucken oder runterscrollen bis unter ARD alpha). Gleichzeitig hat man sich prominent in die Programm-Listings von "TV Spielfilm" & Co. eingekauft, wo das Line-up des Senders nun in einer ganzen Spalte ebenbürtig neben Tele 5 präsentiert wird (und Sixx in den Seitenkeller verbannt hat).

Ziel sei es, Prime-Abonnent:innen "mehr Orientierung" zu bieten und allen, die neu dazu kommen, "den Einstieg in die Welt von Prime Video noch einfacher" zu machen, heißt es aus der Deutschland-Zentrale (siehe dazu auch das DWDL.de-Interview mit Christoph Schneider, Country Director von Prime Video in Deutschland und Österreich).

Mit einem Programmschema, das samstags auf Filmabende setzt, sonntags Serien wie "Ringe der Macht" und "Reacher" platziert, montags Thriller, mittwochs und donnerstags deutsche Comedy von "Perfekt verliebt" über "LOL" bis zu "Die Discounter" und freitags den selbstproduzierten Hit "Maxton Hall": Kuratierung statt Überangebot, passive Unterhaltung statt aktiver Auswahlentscheidung.

Sonderrolle unter den Streamern

Als Kanal ist Prime quasi Bindeglied zwischen Amazons gigantischem Content-Katalog und dem passiven TV-Konsum, den Millionen Deutsche immer noch bevorzugen. Aber was wäre, wenn das nur der Anfang ist, um im deutschen Bewegtbildmarkt künftig eine größere Rolle zu spielen?

Fakt ist, dass die Amerikaner:innen mit Prime Video unter den Streamingdiensten hierzulande längst eine Sonderrolle einnehmen. Während Netflix vorwiegend auf Fiction setzt und Disney bekannte Franchises pflegt, setzt Amazon auf den breitesten Genre-Mix. Außer Serien und Reality laufen eigene Shows und Comedy, teilweise Factuals – und fast jedes Mal werden bekannte Namen dafür verpflichtet, die bislang eher klassisch im Linearen unterwegs waren.

Teddy Teclebrhan hat für Prime seine eigene Show produziert, Bastian Pastewka und Anke Engelke drehten ihre erste gemeinsame Serie, Steven Gätjen moderierte "Licht Aus" und übernimmt selbige Funktion für das angekündigte "Yes or No Games", Bully Herbig ist seit Jahren Aushängeschild des Dauerbrenners "Last One Laughing ", der gerade in die sechste Staffel startete und um den so ziemlich jeder Sender den Streamer beneiden dürfte.

Prime ist mittendrin statt nur dabei

Im Sport hat man sich Rechte für die Dienstagsspiele der die Champions League gesichert, überträgt Wimbledon exklusiv und wird ab nächster Saison NBA-Basketball zeigen. Außerdem experimentiert man mit Reality-Formaten wie "The 50" und "7 vs. Wild" und kooperiert zunehmend mit klassischen TV-Sendern: Nach der Kinopremiere des neuen "Stromberg"-Films wird dieser im kommenden Jahr zuerst bei Prime laufen, bevor er im Free TV bei ProSieben zu sehen ist. Und mit Sat.1 entwickelt man eine Neuauflage der Serie "Der letzte Bulle".

Amazons Content-Strategie lautet: mittendrin statt nur dabei.

Dafür baut man Prime vom Mitgliedsprogramm zunehmend zur Entertainment-Anlaufstelle um, die – inzwischen größtenteils auch werbefinanziert – Videoinhalte aller Art bereitstellt. Sollte die angekündigte Abwicklung des Schwesterdiensts Freevee noch erfolgen, ließen sich auch Kostenlos-Inhalte ohne Abo integrieren.

Dazu kommt, dass Amazon dank der selbst entwickelten und vertriebenen Hardware, seinen millionenfach verkauften Fire TV Sticks, inzwischen einen der wichtigsten Zugangspunkte zum Bewegtbildkonsum in Deutschland kontrollieren dürfte.

Wir schalten das mal automatisch ein für Sie

Laut einer aktuellen Studie von Goldbach gehören bereits 32 Prozent der Deutschen (vorwiegend bei den 30-49 Jährigen) zu den "Cord Cuttern", die keinen klassischen TV-Anschluss mehr haben. Wenn diese Menschen ihren Fernseher einschalten, sehen sie zuerst den Startbildschirm ihres Smart-TV-Systems – oder eben den von Fire TV, und darauf die Kacheln verschiedener TV- und Streaming-Anbieter. Diese Zahl steige "rasant", argumentierte das ZDF kürzlich anlässlich der Neuaufstellung seines Streaming-Angebots im Netz – deshalb müsse man als Anbieter dort auch vertreten sein. Mit eigener App. Und (wie es auch öffentlich-rechtliche Anbieter zunehmend praktizieren) mit bezahlter Formatwerbung auf der Fire-TV-Startseite.

Was dort sonst noch prominent platziert wird, entscheidet selbstverständlich: Amazon.

Die Macht dieser Position zeigt sich zum Beispiel an Champions-League-Spieltagen: Wer einen Fire TV nutzt, bekam in den vergangenen Wochen während eines laufenden Spiels dessen Empfehlung direkt eingeblendet. Ohne aktives Eingreifen begann nicht nur die Live-Übertragung unmittelbar auf der Startseite; nach einer Minute schaltete das Gerät auch automatisch auf den hauseigenen Champions-League-Kanal. Von dieser Möglichkeit, Zuschauer:innen zu sich zu lotsen, können klassische TV-Sender nur träumen.

Anbieter, Verbreiter, Werbevermarkter

Für Amazon läge es durchaus nahe, demnächst auch im Linearen stärker mitzumischen. Etwa, indem man den Prime-Kanal auch für Nicht-Mitglieder öffnet, empfangbar über alle gängigen Verbreitungswege – von Kabel über Satellit bis IPTV.

Der Sender wäre nicht nur eine ideale Werbemaßnahme für das kostenpflichtige Abonnement des Tech-Riesen, sondern auch eine Möglichkeit, das bereits geöffnete Tor zum lukrativen TV-Werbemarkt noch weiter aufzustoßen. Und mit "LOL", "Herr der Ringe" & Co. in direkte Konkurrenz um das lineare Spartenpublikum zu gehen. Kein besonders schönes Signal für traditionelle TV-Sender, die sich gerade mit dem Gedanken angefreundet haben, die Streaming-Anbieter als Partner zu begreifen.

Aus Sicht von Amazon allerdings ergäbe beides Sinn: kooperieren und konkurrieren. Zumal jeder weitere Schritt die Position im Bewegtbildmarkt stärken könnte: vom Anbieter über den Verbreiter bis zum Werbevermarkter.

Prime fehlt der emotionale Anker

Es gibt da nur ein klitzekleines Problemchen. Und das ist: die Marke selbst. Denn Prime fehlt etwas, das zahlreiche klassische Sender über viele Jahre, teilweise Jahrzehnte aufbauen konnten: eine emotionale Bindung zu ihrem Publikum. Während das Erste als seriös und verlässlich gesehen wird, ProSieben innovativ und nahbar daherkommt und RTLzwei laut und frech, transportiert Prime bislang keine erkennbare Persönlichkeit.

Das liegt zum einen am Spagat, den die Marke leisten muss: "Spannende Unterhaltung … und schnelle, kostenlose Lieferung" – so wirbt Amazon gerade auf Plakaten mit einem Jack (Reacher) out of the Versandbox in deutschen Städten für sein Multifunktionsabonnement.

Zum anderen kommuniziert die Marke bisher quasi gar nicht direkt mit ihrem Publikum, ist auf Social Media kaum ansprechbar, außerhalb des Videoabrufs wenig erlebbar. Amazon hat haufenweise Stars, Inhalte und Technik – aber keinen emotionalen Anker. Prime Video ist eine kühle, hellblaue Kachel auf Smartphones und Smart TVs, der eine eigene Stimme fehlt. Und bei der insbesondere eigenproduzierte Shows – trotz origineller Ansätze – oft zu groß, zu voll, zu sperrig wirken. Professionell produziert, aber nie mit eigener Handschrift und Herz.

Ein Erfolg, der sich nicht erkaufen lässt

Das ließe sich ändern. Und womöglich besteht darin die eigentliche Herausforderung für Amazon – weil sich dieser Erfolg nämlich nicht so einfach erkaufen lässt, sondern hart erarbeitet werden müsste.

Während klassische Sender alle Hebel in Bewegung setzen, um ihre Marke ins Streaming-Zeitalter zu transferieren, muss Amazon den umgekehrten Weg gehen. Und könnte im Erfolgsfall die Grenzen zwischen linearem TV und Streaming, zwischen Content-Anbieter und Plattformbetreiber, zwischen Bezahl- und Werbefinanzierung weiter verschwimmen lassen.

Der Prime-Kanal wäre dann kein Rückschritt ins Fernsehzeitalter. Sondern Vorbote einer TV-Zukunft, in der ein mit Geldbündeln wedelnder Neuling mit am Tisch sitzt, der nicht nur die Karten mitmischen will. Sondern auch den Job des Türstehers übernommen hat, der entscheidet, welche Inhalte die Zuschauer:innen überhaupt zu sehen kriegen.

Und damit: zurück nach Köln.