"Es ist wieder Domino Day bei RTL", begrüßte Frauke Ludowig die Zuschauer:innen letztmals im November 2009 aus dem niederländischen Leeuwarden, wo Steine-Großmeister Robin Paul Weijers und sein Team nach wochenlangem Aufbau 4,49 Millionen Steine in einer spektakulären Kettenreaktion umfallen ließen – von Freiheitsstatue und Wallstreet-Crash (welch prophetische Symbolik!) über Südamerika bis Down Under: "The World in Domino".
Die Geschichtsbücher wissen: Das war Weltrekord! Und zwar der vorerst letzte. Denn die Ankündigung, das TV-Event 2020 neu aufleben zu lassen, löste sich pandemiebedingt in Luft auf – und war seitdem kein Thema mehr.
Sechzehn Jahre später ist trotzdem wieder Domino Day bei RTL. Schon seit Wochen. Mit dem klitzekleinen Unterschied, dass diesmal keine Steine umfallen – sondern reihenweise Entertainment-Legenden und Show-Formate, von denen man bisher angenommen hatte, sie könnten fast unverwundbar sein. Und niemand weiß, wann die Kettenreaktion endlich zum Stillstand kommt.
Er hat ja viel Bitteres ertragen müssen
Was gerade passiert, ist nicht mehr nur der übliche Wandel im TV-Geschäft. Es ist der Abschied von sicher geglaubten Gewissheiten, die über viele Jahre das Fundament der deutschen Bewegtbild-Unterhaltung waren.
Zum Beispiel Thomas Gottschalk: Seine Ankündigung, sich mit 75 Jahren Ende des Jahres endgültig aus der Samstagabend-Unterhaltung zurückzuziehen, markiert nicht nur das (bereits mehrfach generalgeprobte) Ende einer Ära. Sie demonstriert auch, wie sehr die Branche auf die vermeintliche Zeitlosigkeit ihrer Protagonist:innen gesetzt hat. "Wenn der Papst jünger ist als ich, dann ist für mich die Sache gelaufen", sagte Gottschalk in der jüngst zu Ende gegangenen Staffel von "Denn sie wissen nicht, was passiert". Und spielte – trotz Standing Ovations des Studiopublikums – nochmal auf sein zunehmendes Gefühl des Unverstandenseins an: "Man hat ja viel Bitteres ertragen müssen in der letzten Zeit, wenn man immer so gehänselt wird."
Was bei Gottschalk (vielleicht) zur finalen Abschiedsentscheidung führte, hätte auch Stefan Raab eine Warnung sein können. Denn nur wenige Tage später desavouierte der erst vor einem Dreivierteljahr zu RTL zurückgekehrte Entertainer seinen eigenen Mythos.
Zunächst bestätigte sein neuer Haussender, Raabs Show "Du gewinnst hier nicht die Million" wegen sinkenden Publikumsinteresses nicht mehr aus der Sommerpause zurückkehren zu lassen. Dann verfehlte Raab auch noch großräumig das von ihm selbst gesteckte Ziel, mit dem selbst gesuchten deutschen Act in diesem Jahr erneut den Eurovision Song Contest zu gewinnen.
Erfolgsformate an der (Reichweiten-)Grenze
"Vielen Dank, ich brauch kein Mitleid", wiegelte Raab in der zurückliegenden Woche Respektbekundungen seines Showgasts Thorsten Schorn ab – und bekräftigte: "Für mich zählt immer nur der Sieg. Alles andere ist langweilig, ehrlich gesagt. Aber man muss damit leben, wenn es nicht so geklappt hat, wie man sich das vorgestellt hat. Das ändert nichts daran, dass ich beim nächsten Mal wieder sage: Ich will gewinnen – egal was es ist."
Die Einstellung mag nachvollziehbar sein; sie hat Raab im deutschen Fernsehen schließlich dorthin katapultiert, wo ihn RTL im vergangenen Jahr abholen wollte.
Aber Gewinnenwollen und Gewinnenkönnen sind in einer sich stetig veränderten TV-Landschaft nunmal zwei verschiedenen Dinge – und Raab hat übersehen, dass man sich fürs Zweite womöglich auch ein Stück weit selbst neu erfinden müsste, anstatt immer bloß die alte Suppe von früher neu umzurühren. Weil sonst die Neugierde des Publikums schnell erlischt.
Das noch viel schwerwiegendere Problem – nicht nur für RTL – ist jedoch, dass außer den Legenden von einst nun auch langlaufende Erfolgsformate ihre (Reichweiten-)Grenzen aufgezeigt kriegen, und zwar: genreübergreifend.
Der nächste Generalumzug muss her
Die sonst auf Dauererfolg abonnierten "Geissens" beendeten die aktuelle Staffel bei RTLzwei mit schwachen Marktanteilen: eine Achterbahnfahrt zwischen Erfolg und Enttäuschung, die nun im Keller des sich im Neubau befindlichen Luxusanwesens in Saint-Tropez gelandet ist, wo der Platz mit den 16 unterzustellenden Autos, dem geplanten Fitness- und Friseurstudio und Roberts Weinkeller geteilt werden muss. Nur halt mit dem ungewohnten Effekt, dass sich zum linearen Staffelfinale dafür weniger Leute interessierten als nebenan bei Kabel eins für "Beverly Hills Cop 2" von 1987.
Bei Kabel eins tun sich dafür die vom Wettbewerber wegakquirierten Reimanns schwer: Mit nur 580.000 Zuschauern und mageren 2,9 Prozent starteten sie zuletzt so schwach wie nie in eine neue Staffel. In der alles so arg zu Ende erzählt ist, dass es sich nicht mal mehr mit einem Reimann'schen Hausan- oder -umbau retten lässt – sondern direkt der nächste Generalumzug her muss.
Besonders deutlich ist das Eingeständnis von RTL-Chefin Inga Leschek zum (mindestens vorläufigen) Ende des "Supertalents": "Man kann kurze Auftritte spektakulärer Talente jederzeit überall auf TikTok und YouTube abrufen. Zugegebenermaßen ist es uns nicht gelungen, darauf eine zukunftsfähige Antwort zu finden", sagte sie im DWDL-Interview.
Die unübersehbar gewordenen Risse kitten
Damit gehen gleich zwei zentrale Überzeugungen in Köln flöten: Zum einen, dass einst hypererfolgreiche Formate nur geringfügig modernisiert werden müssen, um sie langfristig wenigstens auf stabilem Niveau weiterführen zu können. Und zum anderen, dass man dafür unbedingt Dieter Bohlen zurückholen musste. Der mit 71 Jahren jetzt im übrigens auch schon älter ist als der Papst – und das nach der Seriositätspause wieder auf Bohlenhaftigkeit gebürstete "Deutschland sucht den Superstar" trotzdem nicht vor neuen Quotentiefs bewahren konnte.
Anders gesagt: In der Branche schleicht ein Gespenst umher. Dem sich bislang niemand so recht in die Augen zu schauen traut. Dieses Gespenst ist die zunehmende Gewissheit, dass manche TV-Formate in ihrer Grund-DNA so fest mit einer bestimmten Zeit verknüpft sein könnten, dass sie sich vielleicht nicht mehr dauerhaft in die jetzige übertragen lassen.
Das Perfideste an der aktuellen Krise ist aber: ihr Timing. Während schon immer einzelne Formate schwächelten und durch neue kompensiert werden konnten, brechen nun mehrere Stützen gleichzeitig weg. "The Masked Singer" schrumpfte von zwei auf eine Staffel pro Jahr. "Das große Promibacken" erreichte bei Sat.1 in der Publikumsgunst zuletzt ein Allzeit-Tief. "Grill den Henssler" performte bei Vox so schwach wie nie. "Schlag den Star" schwankte bei ProSieben zwischen den Extremen.
Die Programm-Verantwortlichen müssen plötzlich auf vielen Sendeplätzen zugleich die unübersehbar gewordenen Risse kitten.
Zu viele zu ähnliche Strategien
Diese Gleichzeitigkeit ist kein Zufall. Sie offenbart, dass zu viele Sender zu lange auf zu ähnliche Strategien gesetzt haben: Bewährtes verlängern, Stars reaktivieren, Formate dehnen. Jetzt, wo diese Strategie an ihre Grenzen stößt, trifft es alle zur gleichen Zeit. Das Publikum, das jahrelang dieselben Rituale einschaltete, scheint ermüdet vom Immergleichen.
Gleichzeitig besteht Anlass zur Hoffnung. Denn die gute Nachricht ist: Die Sender wissen, wie sie sich aus dieser Misere befreien können – weil sie auch das in der Vergangenheit immer wieder bewiesen haben.
Die Rezepte sind immer noch die gleichen: Transformation und Innovation. Letztere mag, wie man in Köln überzeugt ist, kein Wert per se sein. Aber sie ist eben notwendig, um dem Publikum die Faszination und Überraschung zu geben, die es vom Medium schon immer gewohnt war. Ob es wirklich ausreicht, eine neue Quizshow nach der nächsten mit minimalen Twists in Serie zu schicken, sei mal dahin gestellt.
Und dass "Die Verräter" schon in die richtige Richtung geht, weil das Format einem etablierten Genre einen neuen Dreh verpasst, mit dem sich auch prominente Mitspieler:innen anlocken lassen, ist natürlich nur ein schwacher Trost, wenn die Quoten ähnlich schwanken wie die Gruppe bei der Entlarvung der sie täuschenden Mitstreitenden.
Viele Stützen statt tragender Säulen
Aber vielleicht muss die Branche auch anerkennen, dass es schwer möglich sein wird, das nächste "Schlag den Raab", das nächste "Wetten dass..?", das nächste "Einer wird gewinnen" zu finden – und die Herausforderung in der aktuellen Zeit eher darin besteht, in großer Detailarbeit möglichst viele neue Programmmarken auszutüfteln, die dann vielleicht keine tragenden Säulen, aber doch zentrale Stützen des Programms sein können. Weil ja nicht alles auf ewig weiterlaufen kann wie "Let's Dance" oder das mit der "3-Millionen-Euro-Woche" aufgepimpte "Wer wird Millionär?".
Dafür bräuchte es aber wieder mehr Experimentierflächen in den Programmen, und die Erkenntnis, dass man trotz dieser Anstrengung wohl kaum auf kurzfristige Erfolge hoffen sollte.
Bis dahin erlebt das deutsche Fernsehen weiter seinen unfreiwilligen Domino Day. Nur dass es diesmal keine Zeitlupe gibt, die das Spektakel verlangsamt, keine Wiederholung, die den Zauber zurückbringt – und vor allem keine Gewissheit, was zum Finale des großen Umfallens alle noch stehen geblieben ist.
Und damit: zurück nach Köln.