Kennen Sie die sechs Jahreszeiten des deutschen Trash-TV: Frühling, Sommer, Sommer, Sommer, Herbst und Winter? Macht nix, hat RTL ja auch erst dieses Jahr so eingeführt. Am heutigen Sonntag geht nun die bislang anstrengendste Fernsehzeit des Jahres vorüber. Zwei lange, unendlich lange Monate nach dem Start und Wochen nach dem kalendarischen Herbstanfang läuft am Abend das – ziemlich hingerotzte – Finale von "Das Sommerhaus der Stars", in der die verbleibenden Paare im Eiltempo zum Endspiel geschleust werden.
Und es wird höchste Zeit, sich den zuvor entstandenen Schaden mal genauer anzuschauen. Zumal dieser selbst für übliche Genre-Verhältnisse beträchtlich ist.
Kurz zur Erinnerung: In den zurückliegenden Monaten haben Sender und Streaming-Anbieter ihr Publikum lawinenartig mit Reality-Shows überrollt und damit vorübergehend für Vollbeschäftigung unter dem dafür in Frage kommenden Protagonistenpersonal gesorgt. Mit "Promis unter Palmen" lieferte Sat.1 schon zum Trash-TV-Sommeranfang im April den ersten Eklat und schraubte nachher noch "Promi Big Brother" auf die Streckbank; RTLzwei schickte "Love Island" in die Verlängerung, rief zum "Kampf der Realitystars"; und erstmals meldete TV Now mit Eigenproduktionen wie "Like me I’m Famous" und "Ex on the Beach" Ansprüche auf den Trash-Thron an. Keine andere Show aber war in diesem an Herausforderungen schon nicht armen Jahr so brutal und lehrreich wie "Das Sommerhaus der Stars – Kampf der Promipaare".
RTL hat den Bogen überspannt
Das Grundversprechen des Formats besteht darin, Prominenten mit ihren Partnerinnen bzw. Partnern über die Schulter zu schauen, wie sie anderen Prominenten mit ihren Partnerinnen bzw. Partnern auf die Nerven gehen und dabei bereitwillig sämtliche ihrer Emotionen mit der Fernsehnation teilen. So weit, so klar.
Mit der fünften Staffel der bisherigen Erfolgsshow hat RTL in diesem Jahr den Bogen aber endgültig überspannt – und könnte damit nicht nur dem Format, sondern auch dem Genre als solchen langfristigen Schaden zugefügt haben. Dafür sprechen gleich mehrere Gründe.
Nach dem Start mit vier Episoden im Jahr 2016 hatte der Sender zuletzt Jahr für Jahr die Dosis gesteigert, erst auf sechs, dann auf acht. Mit elf Folgen war die aktuell Staffel so umfassend wie keine andere, zeitweise liefen zwei Ausgaben wöchentlich. (Und nachher noch Pocher dazu.) Zum Sendeplatzfüllen und Geldverdienen: total praktisch. Aber aus Publikumssicht? Wahnsinnig erschöpfend.
Im deutschen Fernsehen bislang kaum vorstellbar
Mehr als jedes andere artverwandte Format lebt das "Sommerhaus" von der Zuspitzung – zu der es unausweichlich kommt, wenn zu viele zu große Egos über längere Zeit in einen zu kleinen Raum gesperrt werden. Das ist die Grundkonstellation und verlässliche Erzählbasis zahlreicher Reality-Produktionen und entspricht deswegen auch der Erwartungshaltung des Publikums. Gleich zum Auftakt hat RTL diese beim "Sommerhaus" allerdings in Grund und Boden gebulldozert.
Das Ausmaß der Eskalation, die schon den Einzug der Protagonistinnen und Protagonisten begleitete, wäre bis zu diesem Mittwoch Anfang September im deutschen Fernsehen kaum vorstellbar gewesen. Auch im Nachhinein bleibt die zweistündig zur Schau gestellte Wechselwirkung aus Alkoholmissbrauch, Agressivität, Manie und Depression noch schwer verdaulich. Umso erstaunlicher ist, dass die Startfolge bis heute keine breit angelegte Diskussion darüber ausgelöst hat, wie weit Fernsehen zu Unterhaltungszwecken eigentlich gehen soll und darf.
Fakt ist: Die von den Teilnehmern gelieferte Totaleskalation als Geschenk zu betrachten und sie in voller Länge auszuschlachten, war eine bewusste Entscheidung des Senders – der sonst ja auch völlig anders mit dem Geschehenen hätte umgehen können. Sich mit einer anschließend bei "stern tv" gezeigten Diskussion über Promi-Alkoholsucht und nachgeschobener Zerknirschtheit selbst die Absolution zu erteilen, das funktioniert diesmal nicht. Die in den darauffolgenden Wochen gezeigten Beleidigungen, Hassbekundungen und Zusammenrottungen unterschieden sich allenfalls in den Nuancen ihrer Schlimmheit, weniger in der Intensität.
Spektakulär? Ja! Aber auch unterhaltsam?
War das spektakulär, wie Bachelors die Restinsassen um den Finger wickelten, um ihre von RTL sorgsam ausgesuchten Hauptwidersacher wieder loszuwerden, ihnen letztlich aber doch zum Opfer fielen? Keine Frage. War das "Sommerhaus" eine bislang beispiellose Demonstration, wie sehr sich Menschen in Antipathien hineinsteigern können, ohne noch über Verhältnismäßigkeit (oder potenzielle Rufschädigung) nachzudenken? Auf jeden Fall. Aber: War das alles auch unterhaltsam?
Tja. Genau da liegt das Problem.
So sehr das als Trash-TV subsumierte Reality-Fernsehen auch davon lebt, dass Beteiligte androhen, einander an die Gurgel zu gehen, so hilfreich ist gleichwohl die Gewissheit, dass das in dieser Form nicht passiert. Beim diesjährigen "Sommerhaus" war das gefühlt anders. Die Staffel glich einem einzigen Reckgeturne – wer nur einen Moment nicht aufpasste, flog fies auf die Fresse.
Auf eine überschaubare Folgenzahl konzentriert, hätte selbst das funktionieren können. In diesem Jahr hat sich RTL aber noch zusätzlich von der eigenen Arroganz treiben lassen, das uralte Erzählprinzip von suspense & relief ignorieren zu können und stattdessen auf Dauereskalation zu setzen. Das könnte der entscheidende Fehler gewesen sein.
Spontan ins Zeugenschutzprogramm
Der Dschungel macht es jedes Jahr vor (mal besser, mal schlechter): Phasen der Anspannung ziehen ihre erzählerische Kraft auch daraus, dass sie sich mit solchen der Entspannung abwechseln; einem unerwartet tiefsinnigen Gespräch am Lagerfeuer zum Beispiel, einer rührenden Vergangenheitsbeichte, einem Flirt – inszeniert oder echt – oder einem überraschenden Wandel eines Charakters. Anderes formuliert: Niemand will "Der weiße Hai" sehen, wenn der titelgebende Hauptdarsteller darin 130 Minuten am Stück in Boote, Surfbretter und Menschen beißt, ohne dass zwischendurch jemand Gelegenheit hätte, die eindringliche Warnung Betroffener zu ignorieren.
Genau das hat das "Sommerhaus" aber in diesem Jahr veranstaltet. In 1.256 Sendeminuten war für fast nichts anderes Platz als Konflikte, lautstark ausgetragene Streits, im Geheimen besprochene Hinterhältigkeiten, immer heftigere Beleidigungen. Kein Durchschnaufen, keine interessanten Plaudereien, nicht mal irgendwelche Anekdoten.
Gleich mehrfach ist stattdessen das Reservoir an Antipathiemetaphern ausgeschöpft, wieder aufgefüllt und erneut geleert worden. In jeder Folge hat jemand "sein wahres Gesicht" gezeigt, anderen "ein Messer in den Rücken" gerammt, und so häufig wie in diesen vier Wochen TV-Quarantäne angeblich irgendwelche "Masken gefallen" sind, hätte die Bundesregierung über RTL eigentlich schon längst eine frühabendliche Sperrstunde wegen massiver Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz verhängen müssen.
So wenig Platz für Vernunft, Mitgefühl und Abwägung war selten im deutschen Privatfernsehen, und schon deshalb hätte man die beiden einzigen mit Selbstbeherrschung bemühten Ausnahmen – Caro und Chris – gerne spontan in ein Zeugenschutzprogramm transferieren wollen.
Das Trommelfell aus dem Ohr gebrüllt
Lediglich die Spiele – mit sichtbarem Aufwand und Lust an der kreativen Provokation der Charaktere vorbereitet – boten zumindest zeitweise Aussicht auf vorübergehende Heiterkeit. Aber freilich nur so lange, wie niemand den anderen (versehentlich) in den Notarztwagen knüppelte, vermeintlich Verbündeten entscheidende Eigelb-Hinweise vorenthielt und dem Partner beim Blind-Rückwärtseinparken das Trommelfell aus dem Ohr brüllte.
Das macht vor allem: wahnsinnig müde.
Die Strafe dafür folgte prompt. Und wie dämlich muss man als Sender eigentlich sein, um sich eines seiner Erfolgsformate so entgleiten zu lassen, dass auch hartgesottene Fans des Genres ihre Ablehnung äußern und sich beim nächsten Mal fragen: Wenn das wieder so anstrengend wird wie letztes Mal, muss ich das dann überhaupt gucken?
Im Dienste der "dramaturgischen Verdichtung"
Auf im Laufe der Staffel geäußerte Vorwürfe, RTL habe manche Situationen nachträglich auch noch im Schnitt so manipuliert, dass sie noch drastischer wirkten, erklärte der Sender gegenüber anfragenden Medien: Man verwende "dramaturgisch verdichtet die Szenen, die relevant sind und entsprechende Verhaltensweisen und Reaktionen im Verlauf der Sendung nachvollziehbar machen". Unter dieser Prämisse müsste es eigentlich ja auch zulässig sein, Deutschlands immer noch größten Privatsender eine abgerockte Hass-Schleuder zu nennen, bei der aus vermarkterischer Raffgier und Selbstbesoffenheit angesichts des erwirkten Sendematerials jeglicher Blick dafür verloren gegangen ist, was gutes Unterhaltungsfernsehen ausmacht – auch solches, das von Fans liebevoll als "Trash" bezeichnet wird; das würde schließlich auch der dramaturgischen Verdichtung dienen, um entsprechende senderseitige Verhaltensweisen im Laufe der vergangenen Wochen nachvollziehbar zu machen.
Es wäre aber natürlich nur wieder die nächste Eskalationsstufe im Streit über das, was Unterhaltungsfernsehen kann, darf, soll – und: was nicht. Für die Chance auf eine versöhnliche Einigung lässt man vielleicht besser erst etwas Zeit ins Land gehen. Konstatieren wir also stattdessen einfach: Wenn Reality-Fernsehen eine Scheibe wäre, wäre RTL mit seiner Expedition in diesem Jahr endgültig über den Rand gefallen. Oder um's mit den Worten des "Sommerhaus"-Survivors Lou zu sagen: "Ich bin froh, wenn hier mal Frieden ist und das alles vorbei."
Ist jetzt endlich soweit. Bis im Frühjahr der nächste Trash-TV-Sommer losgeht.
Und damit: zurück nach Köln.
RTL zeigt die elfte und letzte Episode von "Das Sommerhaus der Stars – Kampf der Promipaare" an diesem Sonntag ab 20.15 Uhr. Direkt im Anschluss läuft "Das große Wiedersehen". Alle gezeigten Folgen sind bei TV Now abrufbar.