Neuanfang! Angebot! Veränderung! Gemeinsam! So bestritt Annalena Baerbock zu Beginn der Woche ihr erstes Interview als grüne Kanzlerkandidatin im deutschen Fernsehen. Und wenn sich ihr Wahlkampf-Team diese Power-Leitlinien nicht längst ausgedacht hätte, wäre ProSieben vermutlich auf ganz ähnliche Formulierungen gekommen, um die eigene Motivation zu umschreiben.

Dass Baerbock nach ihrer Kür abends zuerst zu einem Sender ging, der sonst vorrangig für Unterhaltungsshows und Blockbuster bekannt ist, war zumindest eine genauso große Überraschung wie das dafür ausgewählte Moderationsduo aus Katrin Bauerfeind und Thilo Mischke.

Ein Interview ist keine Hetzjagd

Nachher hagelte es vielerorts Kritik, eher abwägende wie bei DWDL.de und im "Tagesspiegel", maßlose von FAZ.NET ("Posse", "Groteske", "ohne jeden Anschein des Denkens") und erwartbare wie die in der "Süddeutschen", deren Autor bemängelte, dass Interviewerin und Interviewer es zu keiner Zeit vermochten, "Baerbock inhaltlich zu stellen". Was unter Journalistinnen und Journalisten eine weit verbreitete Sicht sein mag. Vielleicht ist es aber auch Teil des Problems, Polit-Interviews vorrangig als eine Art Hetzjagd zu begreifen, bei der die zum Gespräch Gebetenen in die Falle gelockt, entlarvt, überführt werden müssten, um dem Publikum einen Nutzwert zu liefern. Dass ein solches Vorgehen der Erkenntnis gar nicht unbedingt förderlich ist, demonstrierte das ZDF nur einen Tag später bei "Was nun?" mit Baerbocks frisch gekürtem CDU-Herausforderer Armin Laschet, der auf die allermeisten Einlassungen des Jagd-Duos aus Bettina Schausten und Peter Frey erstmal "Nein" sagte.

Ist Ihr Wahlkampf nach dem erzwungenen Votum jetzt dauerhaft belastet? – "Nein."

Es ist doch eine Selbstverständlichkeit, dass ein frisch gewählter Parteivorsitzender Kanzlerkandidat wird! – "Nein."

Da muss man sich demütigen lassen? – "Nein."

Haben Sie gedroht, die CDU nach Bayern auszudehnen? – "Nein." Oder die gemeinsame Fraktion aufzukündigen? – "Nein, nein, nein, nein."

Als Sternstunde wird das ProSieben-Kanzlerkandidatinnen-Gespräch trotzdem nicht in die TV-Geschichte eingehen. Aber vielleicht als Signal zur Bereitschaft, sich über alte Gegebenheiten hinwegzusetzen. Erkenntnisreich waren diese 45 Minuten allemal: Zum einen als Beleg dafür, dass vorgestanzte Politikerinnen-Sätze sehr viel schwerer in Interviews unterzubringen sind, wenn von der Gegenseite nicht die sonst zu erwartenden Standardfragen kommen. Und zum anderen, dass es nicht ausreicht, zwei auf sehr unterschiedliche Art kommunizierende Persönlichkeiten wie Bauerfeind und Mischke eine Dreiviertelstunde scheinbar ohne redaktionelle Ordnung einfach machen zu lassen.

Bitte jetzt entritualisieren!

Das beschreibt auch ganz gut die Info-Offensive, die sich bei den beiden großen Privatsendergruppen langsam, ganz langsam zu formen beginnt: Der Wille, gesellschaftlichen Themen und aktuellem Tagesgeschehen im Programm mehr Raum zu geben, ist da – aber allzuoft hapert's noch an der Ausführung.

RTL aktuell spezial - Kampf ums Kanzleramt © Screenshot RTL Maik Meuser spricht mit Armin Laschet im "RTL aktuell Spezial - Kampf ums Kanzleramt".

Im "RTL aktuell spezial" fragte Maik Meuser in der zurückliegenden Woche die ins Kanzleramt strebenden Bewerber von CDU und SPD und die Bewerberin der Grünen so sehr im Eiltempo ab, dass es eher wie eine lästige Pflichtübung wirkte. Und so wie vor ein paar Wochen beim Talk über Corona bei "ProSieben live" eine Friseursalonbetreiberin zwischen die geladenen Politiker zu schalten, die wegen der Lockdown-Einschränkungen sehr aufgebracht war, ist auch nicht automatisch das bessere Sendekonzept. Aber womöglich verzeihbar? Weil das zunehmende Engagement der Privaten in ernsteren Disziplinen etwas in Aussicht stellt, das die öffentlich-rechtlichen Sender bislang so nicht willens waren, umzusetzen: eine Entritualisierung der politischen Berichterstattung, die nach immer denselben Grundprinzipien funktioniert, und beim Zusehen zunehmend ermüdend wirkt.

Die Gelegenheit, Teile des Publikums mit neuen Herangehensweisen und anders gestellten Fragen für die politische Berichterstattung zu gewinnen, ist günstig – auch weil ARD und ZDF zwar erkannt haben, dass sie selbst moderner auftreten müssen, dabei aber gegen allerlei Widerstand zu kämpfen haben.

Widerstände aus dem eigenen Haus

Zum Beispiel im Ersten: Die Initiative, die "Tagesthemen" verständlicher, mutiger, nachvollziehbarer zu gestalten (ohne dabei ihre Ernsthaftigkeit in Frage zu stellen), ist unübersehbar. Gleichzeitig musste sich Helge Fuhst, Zweiter Chefredakteur von ARD aktuell in Hamburg, schon gegen interne Widerstände behaupten, als in der Sendung bloß der "Kommentar" zur "Meinung" wurde, um die Subjektivität der Rubrik herauszustellen. Dabei wäre viel erklärungsbedürftiger, warum dort nicht etwa regelmäßig Redakteurinnen und Redakteure kommentieren, die diese spezielle journalistische Form besonders gut beherrschen – sondern scheinbar jede und jeder, der sich im Senderverbund dazu berufen fühlt und schon mal ausreichend tief in die Kiste mit den abgewetzten Sprachbildern gefallen ist. Und wer hat eigentlich festgelegt, dass Menschen in hochrangigen Staats- oder Parteiämtern so oft von Studioleiterinnen und Chefredakteuren interviewt werden müssen?

All das könnten RTL, ProSieben & Co. anders machen. Dafür müssten die Sender aber langsam mal aus dem Übungsmodus herauskommen und die bekräftigte Ernsthaftigkeit ein Stück weit systematisieren.

1. Neue Formate

Auf Dauer wird es nicht reichen, hinter Sender- oder Nachrichtenformatmarken bloß ein "Spezial" zu tackern, um einem Thema mehr Tiefe zu geben. Als zusätzliches Angebot zur Reaktion auf aktuelle Ereignisse mag das in Ordnung gehen. Gerade für längere Programmstrecken wäre es aber wichtig, dem Publikum unmissverständlich zu signalisieren, was es zu erwarten hat – und: in welcher Form. Was spräche gegen "RTL Reporter" für ausführlichere oder hintergründigere Berichte? Und jetzt, da Anne Wills Kanzlerinnen-Interview-Dauerabo bald ausläuft: Wär's nicht praktisch, ihre Nachfolgerin bzw. ihren Nachfolger zum ProSieben-Interview bei "Linda Zervakis" bitten zu können? Hauptsache, die Sender machen nicht den Fehler, sich einen ausufernden Formatfuhrpark wie die ARD zuzulegen, bei dem es für jede Aktualitätsnuance eine neue Hintergrundtapete mit separatem Logo braucht.

(Und nein, "Jenke. Crime" zählt als Anfang der notwendigen Markenerweiterung leider nicht.)

2. Überraschende Moderatorinnen und Moderatoren

Katrin Bauerfeind hat die Kritik mit ihren Fragen an Baerbock ("Geht Ihnen der Arsch jetzt auf Grundeis?") womöglich auch deshalb so aufgeregt, weil sie sich nicht an die Standards gehalten hat. Gut so! Fernsehen, das relevant sein will, braucht viel mehr Leute, die sich nicht an Standards halten! Weil das die Chance bietet, Politikerinnen und Politiker aus der Reserve zu locken, es ihnen zumindest erschwert, mit immer denselben Sätzen zu antworten, sowie ihre Motivation und ihren Antrieb sichtbar werden lässt.

Natürlich gibt es Anlässe, zu denen ein lockerer Talk im Plauderton völlig unangebracht ist, wenn etwa Parteienvertreterinnen und -vertreter Grundprinzipien der Demokratie in Frage stellen oder gegen Minderheiten hetzen. (Das haben ja auch die Öffentlich-Rechtlichen bereits leidvoll erfahren.)

Aber um Politik für ein jüngeres Publikum nachvollziehbar werden zu lassen, könnte es helfen, wenn Leute die Fragen stellen, denen Lebensnähe im Zweifel wichtiger ist als die klassische Interviewführung. (Dass man zum Schluss trotzdem besser nicht für die Gesprächspartnerin klatschen sollte, ist inzwischen glaube ich hinreichend kritisiert und auch verstanden worden.)

3. Eine starke Optik

Pardon, aber die "Newstime"-Optik, die schon immer ein bisschen aussah wie die Parodie auf eine seriöse Nachrichtensendung (wissen Sie noch, der "Newstime"-Tower?), gehört langsam mal ausrangiert – und das bedrohlich wirkende "ProSieben Spezial"- bzw. "Live"-Intro in Rot-Blau gleich mit.

ProSieben Live © Screenshot ProSieben "ProSieben Live"-Intro-Design in schwerem Rot-Blau.

Wer den Anspruch hat, sich in der aktuellen Berichterstattung von seinen Wettbewerbern abzuheben, muss das auch visuell unterstreichen. Und es dafür womöglich wagen, von klassischen Nachrichtenfarben Abstand zu nehmen. Warum, bitte schön, kann man sich heute am Studiodesign mancher Unterhaltungsshows kaum sattsehen – und sobald es um Zeitgeschehen geht, sitzen alle vor Mittelhellblau in ausladenden Sesseln mit Holzimitatkulisse? Anders gesagt: Kann ProSieben bitte die Bildundtonfabrik dazu verpflichten, seinen noch zu entwickelnden Info-Formaten ein Hingucker-Design zu verpassen wie einst der "Besten Show der Welt", bloß in klein? Und kann RTL-News-Geschäftsführer Stephan Schmitter hoch und heilig versprechen, Studiogäste nie-nie-niemals auf Barhocker hinter dürftig angestrahlte Plexiglassäulen aus dem Baumarkt zu setzen wie im rumpeligen "Hart aber fair"-"Studio"? (Die Bespielung der Videowand im Hintergrund wäre mir eine eigene Kolumne wert.)

Unter diesen Voraussetzungen könnte das mit der Info-Offensive der Privaten echt was werden; dass dem ein oder anderen Kommentator bzw. der ein oder anderen Kommentatorin deswegen der Kragen platzt, ließe sich als Kollateralschaden einplanen. Hauptsache, die Sender vermitteln Politik auf eine Weise, wie sie im bisherigen Angebot fehlt – und niemand muss am Ende den Laschet geben: Nein, nein, nein, nein.

Und damit: zurück nach Köln.