Im ständigen Bemühen des deutschen Fernsehens, seine Protagonist:innen vor laufender Kamera ins zu großen Teilen nur noch dafür existierende "Guinness Buch der Rekorde" zu bringen und sich dort neben Florian Silbereisens Publikumsbeküssung und Sidos Donut-Turmstapelung zu verewigen, kommt die aktuell überzeugendste Bewerbung von Sat.1: Als Sender, dem es zuerst gelingen soll, in allen wesentlichen Zeitschienen des Tages ein Mehr-oder-weniger-Magazinformat abzusetzen. Nach "Sat.1 am Mittag" (2007, zu teuer) und "Endlich Feierabend!" (2019, zu erfolglos) ist ein solcher Eintrag mit dem Start der neuen Nachmittagsstrecke "Volles Haus! Sat.1 Live" vor zwei Wochen nun endlich in greifbare Nähe gerückt (DWDL-TV-Kritik).

Denn, sind wir doch ehrlich miteinander: Selbst wenn man sich in Unterföhring stolz darauf gibt, "Die erste Live-VIP-News-Talk-Koch-Styling-Quiz-Stars-Tipps-Show der Welt" im Programm zu haben, ist es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis sich der Sender eine kleine Verschnaufpause vom angekündigten langen Atem gönnen wird.

Keine Angst, was zu verpassen

Dabei ist die Grundidee für das Sat.1-Experiment fast schlüssig: Die dreistündige TV-Wundertüte will ihrem Publikum mit gemütlicher Beliebigkeit ein stetiger Begleiter sein, ihr Produktversprechen lautet: Schalt' einfach ein, irgendwas wird schon für dich dabei sein. Ganz ähnlich wie im Formatradio mit dem immer gleichen Hitmix und der ebenso leicht wiedererkennbaren wie austauschbaren Präsentation, bei der man nie Angst haben muss, was zu verpassen. Wird ja ohnehin gleich nochmal wiederholt. (So wie die "Spotlights" und die "VIP Spotlights" in "Volles Haus!".)

Ebenfalls wie beim Radio braucht es dafür aber vor allem eins: Gewohnheit. Und die muss man sich als Sender bei seiner Zielgruppe sehr, sehr hart erarbeiten.

Am zurückliegenden Mittwoch, "Happy Weltfrauentag!", starteten Jasmin Wagner und der für den erkrankten Jochen Schropp eingesprungene Chris Wackert mit der Zusage, "Ihnen und Ihrer Familie das Leben ein wenig leichter zu machen, damit Sie sich auf die wichtigen Dinge des Lebens konzentrieren können" (Fernsehen, zum Beispiel). Um sodann zur Kollegin Britt Hagedorn zu schalten, die Gäste in ihren gänzlich entkrawallisierten Talkkeller gelockt, Pardon: geladen hatte, um mit Ihnen über Haare zu diskutieren: Petra war das Färben superlästig, also hat sie's gelassen; Julia sind die Haare ausgefallen, das war schlimm; und das "Volles Haus!"-Team hat total gepennt, als Britt mit einem Spontan-Geständnis überraschte, das locker die später gezeigte "Bunte Live"-Rubrik hätte füllen können, nämlich: dass sie sich niemals in der Öffentlichkeit mit grauen Haaren zeigen würde!

"Life Hacks" und Olivenöl

40 Minuten später war der "Volles Haus!"-Chris ganz gerührt, dass ihm seine Frau zum Einzug in die neue TV-Butze ein Werder-Bremen-Glas als Deko geschenkt hat (Jasmin: "Ach, ist das rührend"), bevor die Show in aller Geduld auf ihren Tiefpunkt zusteuerte: die "Life Hacks" mit Reporter Manni Sedlbauer, die der erst mit Hebamme Anja in Wuppertal (warum?) und anschließend noch alleine im Studio demonstrierte: Mit abgeschnittenen Luftballons lassen sich Gläser zu Blumenvasen umfunktionieren; ein an die Kopfstütze im Auto gehängte Klarsichtfolie ist eine günstige Tablet-Halterung; und wenn man Paprika, anstatt sie zu schneiden, einfach eindrückt und auseinander bricht, hat man anschließend genauso viel Sauerei auf dem Küchenbrett wie immer.

Es sind drei sehr, sehr lange Stunden, mit denen Sat.1 da zwischen 16 und 19 Uhr den wohl verdienten Feierabend aufzuhalten versucht.

Angereichert mit Reality-Versatzstücken wie "Die Eisenhardts", bei denen acht panische Kinder zuhause um einen humpelnden Pudel stehen, während Mama und Papa Influencer:in zur Erneuerung ihres Liebesversprechens nach Venedig gegondelt sind, und "Die Promi-Mitbewohner", für die Berufs-Auswanderin Danni Bücher und Reality-Sternchen Gina-Lisa Lohfink bei zwei Durchschnittsfamilien einziehen, um die Ballettstunde der Tochter mitzumachen oder Treppenstufen mit Teppich auszulegen und sich hernach mit Schulnoten dafür bewerten zu lassen.

Zwischendurch hat Victoria Swarowski verraten, dass sie in den Red-Bull-Erben verliebt ist (und zwar: "im exklusiven Bunte Live Interview", von dem dann aber bloß berichtet wird, anstatt es zu senden); Mark Keller hat ein neues Album rausgebracht (Keller: "Das ist echt sehr schön geworden") und tanzt mit seinen Söhnen so, wie er immer mit seinen Söhnen auf TikTok tanzt; und spannender Tipp vom "Volles Haus!"-Trödelexperten: Mit Olivenöl und schwarzem Tee eingerieben sehen alte Holztische, wenn man sehr genau hinsieht, nicht mehr nach ganz so alten Holztischen aus: "Im Prinzip kannste an so 'nem Dinge, das fertig ist, nichts kaputtmachen."

Im SWR ist ein Wischmop umgefallen

Was für neue TV-Formate leider nicht gilt, aber um sich diese Erkenntnis zu erarbeiten, hat die "Volles Haus!"-Redaktion in den kommenden Wochen sicher noch Gelegenheit.

Und – falls nicht? Dann wäre der Neustart der finale Beleg dafür, dass das Fernsehen außerhalb der klassischen Primetime endgültig jegliche Ambition über Bord geworfen hat, seinem Publikum so etwas wie Spannungsbögen und durchgängig erzählten Geschichten zuzumuten. Was am kniffeligen Nachmittag zugegebenermaßen ganz besonders schwer ist, weil das Medium dort noch mehr Lean back ist als ohnehin schon: Das Programm darf seine Zuschauer:innen einerseits nicht so viel Aufmerksamkeit abverlangen, dass nebenbei keine Hausarbeit mehr erledigt werden kann, muss aber gerade noch so interessant sein, dass sich das Einschalten zur Hintergrundbeschallung lohnt.

Von ihren Erfahrungen, wie schwer das ist, könnten zahlreiche Sender ein ganzes "DSDS"-Staffelcasting besingen. Aber: klar, man muss Sat.1 irgendwie hoch anrechnen, dass der Sender es überhaupt noch versucht.

Obwohl zahlreiche öffentlich-rechtliche Wettbewerber bereits einen Riesenvorsprung haben. Also bitte erschrecken Sie jetzt nicht, wenn ich Ihnen mitteile: Am Mittwochnachmittag ist, parallel zu "Volles Haus!" in Sat.1, bei "Kaffee oder Tee" im SWR Fernsehen ein Wischmop umgefallen!

Geeignet zur sofortigen Selbstsedierung

Macht nix, hat ganz heiter zum Thema das Tages geführt: Staubwischen! Bei dem die eingeladene Expertin vom Netzwerk Haushalt nicht nur die richtigen Utensilien mit Straußenfeder, Ziegenhaar und Lammfell vorstellte, sondern auch eine klasse Faustregel zur Trockenblumenentstaubung aufstellte: "Ich sag immer: Bevor sie laufen können." Kurz zuvor hatten Zuschauer:innen am Telefon die Frage beantwortet, welche Frau sie am Weltfrauentag besonders beeindruckt (meine Mutter, meine Tochter, Meryl Streep). Und nachher musste die Weltmeisterin im Halbmarathon, Altersklasse 75plus, so lange auf ihren Talkeinsatz warten, dass sie im Laufe der Sendung um ein Jahr spontanalterte (von 75 auf 76 Jahre, Glückwunsch!).

Fairerweise muss man dazu sagen, dass Sat.1-Chefredakteurin Juliane Eßling von vornherein darauf bestand, mit "Volles Haus!" keine Kopie von Sendungen wie "MDR um 4" abliefern zu wollen. Was völlig richtig ist, weil man dort wirklich ausnahmslos alle Themen des Tages auf die "Menschen in Mitteldeutschland" runterzubrechen versteht, bis die Vorschau auf die abendliche MDR-Reality, nee: Dokuserie "KohleFrauen – Baggern für das Grubengold" (kein Scherz) läuft und der Moderator dem Publikum in aller Seelenruhe demonstriert, wie man den eingeblendeten QR-Code mit dem Smartphone abfotografiert.

Das nützliche Nachmittagsgeschwafel, egal in welcher Regional- oder Boulevard-Variante, eignet sich jedenfalls hervorragend zur sofortigen Selbstsedierung.

Ach, das ist natürlich toll

Und vielleicht ist es da kein Wunder, dass sich jüngere Zuschauer:innen stattdessen mehrheitlich dafür entscheiden, parallel zum Staubwischen und Paprikaschneiden wenigstens nicht auch noch davon erzählt zu kriegen – sondern einer vertrauten Stimme zuzuhören, und zwar eher der von Guido Maria Kretschmer als der von Ingo Lenßen.

"Ach, guck mal", hat ersterer am Mittwoch co-kommentiert, als Roxy aus Salzgitter bei "Shopping Queen" den roten Rüschenhosenrock mit dazu gekauften Utensilien im Wert von 500 Euro zum "Look" aufpeppte, um dem Wochenmotto gerecht zu werden, das die achtjährige Hannah eingeschickt hatte: Von wegen Fehlkauf – zeige, dass dein bisher ungetragenes Teil doch ein echter Hingucker ist. Und, was soll man dazu sagen, außer: "Ach, das ist natürlich toll", "Boah, Wahnsinn, irre", "Aaah, ist das ihr Mann? Guck mal wie der strahlt!" bzw. "Ach, backen die Waffeln? Mein Frank ist auch so'n Waffelbäcker. Wenn jemand kommt: zack, macht der Waffeln". Oder, um's aus der Sicht von Kretschmers Auftraggeber Vox zu formulieren: zack, 14 Prozent Marktanteil. Tschüsseldorf, liebe Konkurrenz!

Der kniffelige Nachmittag kann so einfach sein. Wenn man nur das richtige Personal dafür hat.

Und damit: zurück nach Köln.

"Volles Haus! Sat.1 Live" läuft täglich ab 16 Uhr in Sat.1 und tags drauf als bisweilen kurios gekürzte Variante auf Joyn.