Aufstieg und Niedergang von Unternehmen, die den Alltag ihrer Nutzer:innen zu revolutionieren versprechen, sind der Stoff, aus dem große Serien gemacht werden: In "WeCrashed" verkörpert Jared Leto eindrucksvoll den Größenwahn des WeWork-Gründers Adam Neumann; das ein bisschen überkonstruierte "The Playlist" brachte die Problematik des Systems Spotify auf den Punkt; und eigentlich fehlt jetzt bloß noch, dass Netflix dem letzten großen umverfilmten Entertainment-Revolutionär unserer Zeit eine eigene Serie schenkt: sich selbst.

Der Zeitpunkt könnte nicht günstiger sein, denn der Entertainment-Riese befindet sich vielleicht gerade auf dem Wendepunkt zwischen Auf- und Wiederabstieg.

Gerade einmal zehn Jahre ist es her, dass ein neuer Anbieter aus dem kalifornischen Los Gatos als Hoffnungsträger des Unkonventionellen auf der Bewegtbildfläche auftauchte und nicht nur Entertainment auf Knopfdruck zum unfassbar günstigen Preis einer Kinokarte (ohne Überlängenzuschlag) versprach. Sondern jubelnden Fans von Serien, die von großen Networks abgesetzt worden waren, eine Fortsetzung. Und spätestens mit dem Polit-Hit "House of Cards" auch für die Kreativbranche ein neues Zeitalter einläutete, in dem sie nicht mehr an die Konventionen des linearen Fernsehens gefesselt sein sollte, sondern viel mehr Freiheiten bekam, Stoffe so umzusetzen, wie sie es für angebracht hielt.

Euphorischer Start einer neuen Ära

Im August 2013 kulminierte die Euphorie der sich ankündigenden Streaming-Ära beim TV Festival in Edinburgh, als der damalige "House of Cards"-Hauptdarsteller Kevin Spacey in seiner Rede erzählte, wie Netflix von Anfang an an den Stoff geglaubt hatte, ohne irgendwelche umständlichen Piloten produzieren zu lassen.

Es war eine fantastische Zeit! Die Gesellschaft nahm den Neologismus "bingen" in ihre Wörterbücher auf und streamte, was die Internetanschlüsse hergaben. Ich hab nicht nur "House of Cards" verschlungen, mich von "The Killing" faszinieren lassen, "The Walking Dead" und "Suits" nachgeholt, mich über "Sense 8" geärgert und "Daredevil" gefeiert, sondern bin auch mit "Master of None" durch New York City spaziert, war dank "Stranger Things" im Retro-Fieber, hab mich in "Love" verguckt, "Please like me" entdeckt, wurde in die düstere Welt von "Ozark" entführt, hab "Dark" durchgestanden, atemlos vor "When They See Us" gesessen, das frühe Ende von "Mindhunter" bedauert und zahlreiche Stand-up-Programme internationaler Komiker:innen angesehen.

Es hat damals bloß niemand dazu gesagt, dass auch das neue Zeitalter seine eigenen Regeln und Tücken entwickeln würde.

Seit der vorgegangenen Woche nun ist es endgültig vorbei mit der Alles-ist-möglich-Euphorie: Nun hat Netflix auch seine deutschen Kund:innen per E-Mail ermahnt, dass sie ihren Account bitte schön nur im eigenen Haushalt teilen sollen, weil sonst eine Zusatzgebühr fällig wird, die in anderen Ländern bereits gezahlt werden muss. Wer nicht spurt, für den legt Netflix selbst einen "Haushalt" fest, der anhand des genutzten Internetzugangs ermittlelt wird.

Alle anderen müssen in einen eigenen Account umziehen, oder wie es im umständlichen Netflix-PR-Neusprech heißt: „Mit dem Profiltransfer bleibt das Netflix-Erlebnis auch in Zeiten des Wandels konstant.“ (Was für ein ungeheurer Bullshit.)

Der Streaming-Zirkus muss weitergehen

Und das mag aus wirtschaftlicher Sicht nachvollziehbar sein: Netflix muss, um seinen im Laufe der Jahre immer mehr Geld verschlingenden Streaming-Zirkus weiter zu veranstalten und die Shareholder:innen zufrieden zu stellen, neue Einnahmen generieren – mit regelmäßigen Preiserhöhungen; aber auch, indem man alle, die bisher quasi kostenlos mitgeguckt haben, zu zahlenden Kund:innen zu machen versucht.

Kann halt sein, dass man sich Los Gatos dabei ganz massiv verkalkuliert. Weil die Selbsteinschätzung der dabei mitschwingenden eigenen Unverzichtbarkeit schon seit längerer Zeit nicht mehr mit der Realität korrespondiert.

Kein Zweifel: Netflix ist noch immer eine Macht. Eine, die aktuell 232,5 Millionen zahlende Nutzer:innenkonten weltweit verbucht, weiterhin regelmäßig große Serien- und Doku-Hits abliefert, Kreativen eine Chance gibt, die sie anderswo so nicht erhalten – und im Zweifel sogar Oscars abzuräumen in der Lage ist, so wie es "Im Westen nichts Neues" in diesem Jahr vergönnt war.

Aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das große N längst nur noch ein Anbieter unter vielen ist, die um Aufmerksamkeit, Gunst und Medienbudgets der Mediennutzer:innen buhlen. Und das auch noch, ohne sich dabei sonderlich geschickt anzustellen.

Blitzabsetzung statt Risikobereitschaft

Alle großen Studios bzw. Entertainemnt-Marken haben ihre erfolgreichen Franchises und Serienklassiker abgezogen, um die eigenen Streaming-Plattformen damit attraktiver zu machen; Netflix ist inzwischen fast vollständig auf sich gestellt und bekommt zu spüren, wie schwierig es ist, Franchises zu entwickeln, die Abonnent:innen dauerhaft auf auf der Plattform halten. Ja, das Monster der Woche bei "The Witcher" ist lustig, aber nicht unverzichtbar; keine Ahnung, warum ich "Shadow and Bone" nach einer Staffel weitersehen sollte; und kann es sein, dass "Stranger Things", dessen Serienfinale sich wegen des Autor:innenenstreiks in Hollywood gerade ohnehin massiv verschoben hat, irgendwann ein bisschen zu martialisch geworden ist?

Von der Risikobereitschaft vergangener Tage ist unter dem Druck, so viele Millionen Abonnent:innen zufrieden stellen zu müssen, kaum noch etwas übrig geblieben.

Neue Serienstaffeln werden inzwischen teilweise in "Parts" veröffentlicht, um sie über längere Zeit im Gespräch (und Abonnent:innen auf der Plattform) zu halten.

In schöner Regelmäßigkeit werden gerade erst neu produzierte Serien zur Enttäuschung der mühsam eingesammelten Fans wieder blitzabgesetzt.

Als man im April das Wiedersehen der Reality-Teilnehmer:innen von "Love is Blind" live streamen wollte, geriet das zum peinlichen Komplettdesaster.

Lass das mal Disney+ machen

Die Produktion von Inhalten aus Deutschland war (für mich) zu keiner Zeit ausschlaggebend, das Netflix-Abo zu behalten. Serien wie "Zeit der Geheimnisse" und "Das letzte Wort" kann künftig ruhig einfach das ZDF produzieren, das passt da ohnehin besser hin. Keine Ahnung, wieviele "Sisis" der deutsche Bewegtbildmarkt so braucht. Die deutsche Variante der Dating-Reality "Too Hot to Handle" lag nach der Produktion offensichtlich erstmal ein Jährchen herum, bevor sie veröffentlicht wurde. Und die neue Bildundtonfabrik-Serie "Pauline" wurde schon freiwillig an Disney+ abgegeben. Für die kommenden Monate hat die von ProSiebenSat.1 als Vice President Content DACH geholte Katja Hofem immerhin zahlreiche Neuheiten angekündigt. Ihre Kollegin fürs Nicht-Fiktionale, Inga Leschek, arbeitet inzwischen wieder für RTL – verständlicherweise.

Das Schlimmste aber ist, dass Netflix inzwischen in vielerlei Hinsicht zum Nachfolger des Mainstream-Kinos geworden ist, das man eigentlich als bessere Alternative ablösen wollte: geflutet mit immer neuen Action-Blockbustern und Serien über Auftragskiller und kämpfende Nonnen, die sich mit starbesetzten RomComs abwechseln, bei denen man das imaginäre Popcorn-Kruscheln aus der Reihe dahinter aus Gewohnheit mithört, obwohl man zuhause auf der Couch sitzt.

Kleinere Indie-Produktionen, die es zweifelsfrei weiterhin gibt, lassen sich zumindest über die Startseite kaum noch entdecken; ohnehin gelingt es dem eigentlich doch so ausgeklügelten Algorithmus – zumindest bei mir – nur noch schwer, Inhalte zu empfehlen, über die man nicht schon hundertmal hinweg gescrollt hat.

Kein "Ted Lasso", nirgends

Ja, die Fortsetzung des in die Gegenwart versetzen "Borgen" war ganz gut, "Harry and Meghan" ein Doku-Drama mit Wucht und das schwarzhumorige "Beef" gerade eine ungewöhnliche Entdeckung, über die zurecht alle reden.

Aber ich hab schon seit längerem nicht mehr das Gefühl, dass Netflix Serien mit Leidenschaft und Herz macht, und nicht in erster Linie mit Blick auf deren Shareholder Value. Wo ist ein Überraschungs-Hit wie "Ted Lasso", das gerade bei Apple+ mit soviel Liebe für die Weiterentwicklung seiner Hauptcharaktere zu Ende geht, dass der Abschied wirklich schmerzt? Wo ist ein so sorgfältig geschriebenes und inszeniertes Fantasy-Spektakel wie "The Mandalorian", das Disney+ zurecht als Aushängeschild bezeichnen kann? Wo sind Projekte mit deutscher Beteiligung, die wirklich relevant für dies hiesige Zuseher:innenschaft sind, wie es Prime Video zumindest versucht?

Netflix hat nichts mehr, was mich wirklich in seinen Bann zieht, um zu denken: Ach, lass das Abo mal laufen, da wird nächsten Monat auch schon wieder was dabei sein, das ich unbedingt gucken möchte.

Das heißt nicht, dass ich undankbar sein will, im Gegenteil: Danke Netflix, dafür dass du die branchenweite Gepflogenheit eingeführt hast, Streaming-Abonnements unkompliziert monatlich kündigen zu können, ohne in ätzende Zwei-Jahres-Veträge gefesselt zu sein; danke vor allem für "Better Call Saul", dieses unfassbare Serienmeisterwerk, das gerade noch zu Ende gegangen ist, bevor du mich darauf aufmerksam machtest, dass es nach zehn Jahren und zwei Monaten ununterbrochener Treue jetzt auch mal gut ist. Good Luck beim Geldeintreiben, Netflix, tschüß – und danke für den schönen Binge!

Und damit: zurück nach Köln.