Seit vergangenem Montag läuft am Sat.1-Vorabend die neue Staffel von "ViB", wobei das B diesmal nicht für Berlin steht, sondern für: Bayern. Und die Hauptprotagonist:innen sich nicht mehr in der Phase des Großstadt-Sturmunddrangs befinden, sondern im allerbesten Zurückaufslandzieh-Alter.

In der neuen werktäglichen Filmpool-Serie "Die Landarztpraxis" (DWDL.de-Einordnung zum Start) saust nicht nur Caroline Frier durch die erdachte bayerische Provinz; sondern auch eine Kameradrohne fortwährend über sattgrüne Wiesen, rauschende Bäche, malerische Ortschaften mit spitzen Kirchtürmen, blumenverzierte Häuser und kuhbeschmückte Hänge bis zum friedlich in der Sonne glitzernden Schliersee, an dem die Welt noch ein bisschen in ordnunger ist als überall sonst, mindestens aber: in ihren Problemen deutlich überschaubarer.

Die Grundkonstellation ist bereits in der ersten Minute erklärt, als Mutter und Tochter durchs Bergpanorama über die Landstraße flitzen: "Ich bin Sarah König, 39 Jahre alt, alleinerziehende Mutter und Notfallmedizinerin aus Berlin. Ich hab mir die ganze Zeit vorgemacht, dass ich mein Leben einigermaßen im Griff hab – aber das stimmt nicht. Jetzt bin ich mit meiner Tochter Leo auf dem Weg nach Wiesenkirchen, ein kleines Städtchen mitten in Bayern, um hier mit der größten Lüge meines Lebens aufzuräumen. Und ich hoffe wirklich, dass das für alle gut ausgeht."

Okay, keine weiteren Fragen!

Walnussallergie und Natriummangel

In besagtem Städtchen angekommen flitzt noch kurz der Sat.1-Sprecher gut gelaunt auf dem Mountainbike durchs Bild, dann: Aussteigen, bitte! – und zweieinhalb Minuten nach Serienstart hat sich schon der blendend aussehende Ersatzdoktor aus München in Sarahs Herz und Leben zurückgeschmeichelt.

"Mei, is des nett, dass sie uns a bisserl unterstützen", sagt die freundliche Praxisassistenz, als Sarah trotz des geplanten Urlaubs spontan als zusätzlicher Aushilfs-Doc anheuert; und wenige Episoden später sind nicht nur die für Liebeswirren sorgenden Parteien, sondern auch die beiden Antagonist:innen und ein superkitschiger Teenager-Handlungsstrang etabliert.

Die höfliche Dorfjugend mistet pflichtbewusst den Stall aus, um ihn als Partylocation nutzen zu können; in der Praxis wurden Patient:innen erfolgreich gegen Walnussallergie und Natriummangel behandelt; und zu Wanderungen und Picknicks vor Seepanorama trällert erst Pink: "Cover me in sunshine, shower me with good times", bevor Cat Burns deutungsschwer anschließt: "If there's something you wanna do, just do it / Don't let your head stop your heart from moving." Also, sagen wir mal: im Laufe der nächsten 55 Folgen, für die Sat.1 seine Zweiraum-"Schwarzwaldklinik" mit "Schloss am Wörthersee"-Atmo verschmelzen hat lassen.

Rheumadecken rein ins Dschungelcamp

"Manchmal braucht's einen Neuanfang, um wieder durchzustarten", stellt Sarah zwischendurch angesichts ihrer Wiesenkirchener Teilassimilierung fest, und das gilt natürlich auch für den gebeutelten Sat.1-Vorabend, in den die "Landarztpraxis" ein Publikum zurücklotsen soll, für das der ProSiebenSat.1-CEO Bert Habets gerade im Kern "die 40- bis 65-Jährigen" identifiziert hat.

Obwohl die "Landarztpraxis" ziemlich viel richtig macht, um am Vorabend für Zerstreuung zu sorgen, hat das in der ersten Woche, bezogen auf die TV-Quoten, noch nicht so funktioniert wie erhofft. Und vielleicht, nur ganz vielleicht könnte das daran liegen, dass der Sat.1-Neustart gleichzeitig nicht alt genug und nicht jung genug positioniert ist?

Klingt kompliziert, aber ich erklär's: Angesprochen auf derzeit prägende Trends hat TheWit-Gründerin Virginia Mouseler zu Beginn der Woche im DWDL-Cannes-Special die Entwicklung des klassischen Fernsehens mit der These auf den Punkt gebracht: "Senioren sind die Zukunft des linearen Fernsehens." Im US-Fernsehen erfolgreiche Formate wie "The Golden Bachelor" würden bald "andere inspirieren" und künftig für mehr "Old-School-Fernsehen" sorgen.

Okay, also: Rheumadecken rein ins Dschungelcamp, Leinen los für "Love Island 50plus" mit Hebe-Lift für den Pool und dann ab ins "Pflegeheim der Stars"?

Von wegen Geheimwaffe "Glücksrad"

Katja Hofem, Vice President Content DACH bei Netflix, reflektierte im Interview mit dem "turi2"-Printableger just die gegenteilige Überzeugung – nämlich, dass es nach ihren Erfahrungen kein spezielles Programm für "Best Ager" brauche, keine von ihr so genannten "Apotheken-Umschau-Formate": "Der Zuschauer will viel lieber das sehen, was die Jüngeren sehen. Er identifiziert sich lieber mit Jüngeren, ganz einfach, weil er sich dann selbst jünger fühlt und so auch nochmal andere Perspektiven einnehmen kann."

Wer hat recht: Mouseler, Hofem – oder: beide?

Fakt ist, dass die Zeit, in der jungen Menschen lineares Fernsehen eingeschaltet haben, drastisch zurückgeht. Den öffentlich-rechtlichen Sendern kommt zu Gute, dass ein Großteil ihres Programms schon immer eher an Ältere gerichtet war. Und die Privatsender erkennen die neue Realität u.a. an, indem sie – wie RTL – die bis 59-Jährigen in ihre Hauptzielgruppe integrieren.

Selbst dezidiert jung positionierte Sender wie ProSieben müssen laut CEO Habets "entsprechend der demografischen Entwicklung in den deutschsprachigen Märkten älter werden"; RTLzwei hat für die schonende Reifung – "älter werden, ohne die Jungen aufzugeben" – derweil die Geheimwaffe "Glücksrad" entdeckt.

Junge sind die nachwachsenden Alten

Nochmal zum Mitschreiben: Ältere schauen also gerne Programm für Ältere, weswegen Programme älter werden. Ältere schauen aber auch gern Programm für Jüngere, um sich jünger zu fühlen.

Parallel dazu schauen Jüngere zwar gerne Programm für Jüngere – aber halt seltener linear. Gleichzeitig schauen Jüngere manchmal aber auch gern Programm für Ältere, und zwar: obwohl es linear läuft. Als das Erste Anfang Oktober am Samstagabend eine neue Ausgabe des Show-Dinos "Verstehen Sie Spaß?" zeigte, standen anderntags 16,4 Prozent Marktanteil bei den 14- bis 49-Jährigen unterm Strich – deutlich mehr als bei den Wettbewerbern RTL, ProSieben oder Sat.1. Gleichzeitig gelingt es auch der nicht gerade als Jungbrunnen bekannten ZDF-Trödelshow "Bares für Rares" regelmäßig, junge Zuschauer:innen für sich zu begeistern: Im Mai dieses Jahres meldete DWDL.de mit 14,1 Prozent Marktanteil am Nachmittag einen vorläufigen Höchstwert.

Okay, alle schauen gerne alles – bleibt dann nicht einfach das meiste, wie es ist?

Nein, natürlich nicht. Die Greatest Hits des linearen Fernsehens – große Shows, Live-Events und Sportereignisse – mögen auf absehbare Zeit zielgruppenübergreifend interessant sein; und manche Sendungen profitieren womöglich davon, dass unter den Jungen viele nachwachsende Alte sind.

Dahin siechende Einschaltverpflichtung

Das Problem ist eher eines, das andere etablierte Genres und Programmplätze jenseits der Primetime betrifft. Das liegt insbesondere daran, dass jüngere Zuschauer:innen wöchentlich oder sogar werktäglich wiederkehrende Einschaltverpflichtungen sehr viel seltener als früher oder gar nicht mehr eingehen, weil sie zahlreiche Alternativen (Ausgehen, Freunde treffen, auf der Straße kleben) haben; und dass das nachträgliche Ansehen einer deswegen verpassten Sendung via Mediathek sehr viel angenehmer ist als zu einer feststehenden Zeit zuhause vor der Glotze sitzen zu müssen.

(Viele) Ältere haben diese Verpflichtungen sozialer Natur seltener oder nicht mehr im gleichen Maße; zugleich verspricht das Einschalten regelmäßig wiederkehrender Programme Verlässlichkeit und Struktur.

Was aus Sicht der Sender zwar großartig ist. Außer halt, man muss wie Sat.1 Teile des Publikums überzeugen, von einer bisherigen TV-Gewohnheit zu lassen, um sich eine neue – wie "Die Landarztpraxis" – anzulachen. (Der inzwischen umfänglich durchsanierte ARD-Vorabend konnte lange Zeit ein Lied davon singen.)

Hereinspaziert, Sie haben nix verpasst

Dabei gibt sich der Sat.1-Neustart wirklich alle Mühe, so linear wie nur möglich designt zu sein. Dass Hauptprotagonistin Sarah Episode für Episode mittels innerem Monolog zusammenfasst, wie weit sie mit ihrem angekündigten Vorhaben gekommen und auf welche Hindernisse sie gestoßen ist, hilft nicht nur dabei, weniger Text zu lernen bzw. potenziell erklärende Situationen nicht umständlich schauspielern zu müssen.

Vor allem ist das Vorabend-Repetitorium aber eine Einladung an plötzlich reinzappende Neu-Zuschauer:innen, jetzt sofort noch in die Story einzusteigen, ohne umständlich irgendwas nachholen zu müssen.

"Ich bin nach Wiesenkirchen gekommen, um mit der größten Lüge meines Lebens aufzuräumen – und schon nach einem Tag hab ich das Gefühl, dass alles ganz anders wird als ich mir das vorgestellt habe", sagt Sarah in Folge zwei. In der dritten erklärt sie: "Ich bin in dieses Dorf gekommen, weil ich endlich mit meinem Leben aufräumen will, aufräumen muss. Ich war heute schon kurz davor, Fabian die Wahrheit zu sagen, aber am Ende hab ich dann doch gekniffen." Folge vier: "Ich bin von Berlin nach Wiesenkirchen gekommen, um mit der größten Lüge meines Lebens aufzuräumen – dass plötzlich Fabians Ehefrau auftaucht, macht es mir nicht gerade leichter, die Wahrheit zu sagen." Und fünf: "Ich hatte schon befürchtet, dass es schwer wird, mit meiner Lebenslüge aufzuräumen – doch wie schwer es wirklich wird, konnte ich nicht ahnen."

Geändert wird hier gar nix!

Naja, ungefähr so schwer wie eine werktägliche Serie zu etablieren, auf die sich jüngere Zuschauer:innen linear kaum noch einlassen werden, während die Älteren aufwändig von stabil laufenden Gewohnheitsprogrammen weggelockt werden sollen?

Oder wie's der griesgrämige Senior-Doc in der "Landarztpraxis" gerade angesichts der in sein Vermächtnis einzufallen drohenden Modernität angekündigt hat: "Geändert wird hier gar nix!"

Für Sat.1 bleibt zu hoffen, dass man sich stattdessen an dem Rat orientiert, den die ins Bayerische zurückgeeilte Notärztin von der örtlichen Dorfgemeinschaft bekommt: "Sie dürfen sich von nix und niemandem unterkriegen lassen. Wissen Sie, in Wiesenkirchen ist noch immer alles gut gegangen."

Von Unterföhring hat leider keiner was gesagt.

Und damit: zurück nach Köln.

"Die Landarztpraxis" läuft montags bis freitags um 19 Uhr in Sat.1; auf Joyn lassen sich Episoden auch vorab ansehen.