Wenn das deutsche Privatfernsehen am Tag des Jüngsten TV-Gerichts vor seine rotgelockte Schöpferin treten wird, um abwägen zu lassen, ob es in den Himmel gerufen oder die Hölle verbannt wird, dann dürfte die mit hochgezogener Augenbraue auflisten: "Der heiße Stuhl", "Promiboxen", "Temptation Island" – und ohne große Umschweife direkt in Richtung Unterwelt winken.
Woraufhin der Verurteilte schnurstracks auf das wichtigste Pfrund verweisen wird, das auf der Habenseite verbucht werden kann: "Julia Leischik sucht: Bitte melde dich." Und, wer weiß: Vielleicht reicht das wirklich, um doch noch eine unerwartete Himmelfahrt rauszuschlagen.
Seit unglaublichen siebzehn Jahren (zwölf davon für ihren aktuellen Haussender Sat.1, dem sie noch bis mindestens 2026 erhalten bleibt) sucht die Königin der fernsehgeprüften Empathie nach verschollenen Angehörigen und bringt Menschen zusammen, die einander bislang vergeblich gesucht haben. Dafür scheut sie weder Kosten noch Mühen: Leischik und ihr Team fahren an die entlegensten Orte, um sich dort nach ehemaligen Nachbar:innen zu erkundigen, auf gut Glück an früheren Arbeitsstellen durchzufragen und Termine auf Behörden zu machen, damit die vielleicht tief aus irgendeiner Meldestatistik eine Verzugsadresse fischen.
Dann passiert was, mit dem keiner gerechnet hat
Nichts daran ist neu: Das Format arbeitet mit der uralten Faszination der Familienzusammenführung Carell'scher Natur, mit vorangegangener Spurensuche zwar, aber immer denselben Abläufen und Spannungsbögen: "Wie so oft bleibt uns jetzt nichts anderes übrig als zu warten"; "Wenn ich ehrlich bin, sind wir mit der Suche jetzt wieder bei Null"; "Dann ist was passiert, mit dem keiner gerechnet hat."
Spätestens, wenn Leischik diejenigen zu sich holt, die sich mit dem Suchauftrag an ihre Redaktion gewandt haben, ist absehbar: Das Samtsessel-Gespräch in dem angenehm Feng-Shui-haft eingerichteten Kölner Hinterhof-Loft wird mit hoher Wahrscheinlichkeit darauf hinauslaufen, dass Leischik ihnen am Ende eröffnet: "Es ist soweit, du kannst jetzt zu deiner Mama gehen." Oder: "Es ist soweit: Du kannst jetzt zu deinen Schwestern gehen." Oder: "Es ist jetzt soweit. Ihr könnt jetzt rausgehen zu eurem Papa." Aber das macht nichts, weil sie so unglaublich gut ist in dem, was sie tut: einfühlsam, zurückgenommen – so, dass bis dahin wildfremde Menschen ihr (und einem Millionenpublikum) sorglos Details ihrer oftmals nicht ganz unkomplizierten Familiengeschichte offenbaren.
"Ich möchte mich sehr für dein Vertrauen bedanken und das Versprechen abgeben, dass ich alles tun werde, um irgendwas rauszufinden", hat Leischik vorher schon gesagt – und hält Wort.
Ein Leben völlig auf den Kopf gestellt
Wenn man unhöflich sein wollte, könnte man ihre Arbeit als Tränenfernsehen schmähen, das ausschließlich für diesen – vorhersehbaren – hochemotionalen Augenblick der Zusammenführung gemacht ist.
Aber: Es funktioniert einfach jedes Mal wieder aufs Neue. Und beim Zusehen muss man schon arg hartherzig sein, sich nicht mit denen zu freuen, die das Fernsehen da zueinander bringt. (Selbst wenn es dafür vorher oft unverhältnismäßig viel Klaviergeklimper geregnet hat.)
Mit ihrer Arbeit gelingt es Leischik und ihrem Team, die Leben einzelner Menschen völlig auf den Kopf zu stellen – auch, indem sie durch ihre Nachforschungen ans Licht bringen, warum sich Wege einst getrennt haben, was den Betroffenen die Möglichkeit gibt, ihre Gefühle neu zu ordnen oder eine völlig neue Sicht auf die Dinge zu erhalten.
"Ich würde mir wünschen zu wissen: was ist mit dem eigenen Vater passiert? Dass man Gewissheit hat: Lebt er überhaupt noch? Oder ist er beerdigt? Alles andere ist dann vielleicht auch schon zweitrangig", sagen die Zwillinge Fabian und Sebastian. Christine hofft, ihre Geschwister zu finden: "Zu wissen dass da noch jemand ist, wäre das Schönste." Und Corinna sucht ihre leibliche Mutter: "Man fühlt sich immer unvollkommen."
Sie haben aber ein außergewöhnliches Auto!
Manchmal sind – wie im zuletzt genannten Fall – bloß ein, zwei Anrufe an der richtigen Stelle dafür nötig. Anschließend kann Leischik die vom Schicksal nicht gerade umschmeichelte junge Frau, deren Adoptiveltern früh verstorben sind, direkt in die Arme ihrer Mama schicken, Bonusgeschwister inklusive: "Oh Gott, ich hab Familie."
Meistens ist es aber doch komplizierter, und die Zuschauer:innen fiebern mit, wenn es einmal quer durchs Land, nach Österreich, Frankreich oder in die USA geht, um dort mit großer Geduld den Verbleib einer Person zu erfragen, die einst hier gewohnt, gearbeitet, gelebt haben könnte. Tatsächlich ergeben sich daraus die unwahrscheinlichsten Zufälle: jemand erinnert sich an seinen alten Nachbarn, der ins Seniorenheim gezogen ist; oder eine Taxigesellschaft hat noch abgeheftet, wohin sie ihrer früheren Mitarbeiterin die Gehaltsabrechnung nachschickte.
Nicht nur Leischik selbst, auch ihr Team beweist dabei eindrucksvoll, wie hilfreich es ist, positiv auf Menschen zuzugehen: "Nicht erschrecken vor der Kamera, ich bin von 'Bitte melde dich' von Sat.1", erklärt Leischiks Kollege Marco Buch, wenn er Anwohner:innen und Passant:innen anspricht. Später verabschiedet er sich mit: "Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben." Und Lukas Stege freut sich bei den Spontangesprächen jedes Mal über Details: "Das ist ein wunderschöner Garten!", "Sie haben aber ein außergewöhnliches Auto!", "Das ist Ihre Katze? Schon 16 Jahre alt?"
Menschen, die freundlich zueinander sind
Nirgendwo sonst im deutschen Fernsehen sieht man so viele Menschen, die einfach bloß freundlich zueinander sind. Und: Das lohnt sich. Weil sich irgendwann immer jemand mit dem entscheidenden Hinweis meldet.
Am Ende erhält die aufgespürte Mutter die Chance, die komplizierte Situation zu erklären, in der sie sich vor der Adoptionsfreigabe befand: "Das Leben, das [meine Tochter] verdient hatte, hätte ich ihr damals nicht geben können." Oder der schon totgeglaubte Vater, auf dessen Kommode immer noch das Kinderfoto von damals steht, sagt: "Trotz der langen Trennung hab ich meine Söhne immer geliebt."
Auf diese Weise ist "Julia Leischik sucht: Bitte melde dich" für Sat.1 ein anhaltender Erfolg geblieben. So sehr, dass auf dem Sendeplatz am Sonntagvorabend nach Wiederholungen in den Sommermonaten gerade schon die zweite neue Staffel für dieses Jahr läuft. Woraufhin sich unweigerlich die Frage stellt: Wieso hebt Sat.1 sein Erfolgsformat dann nicht einfach in die Primetime, wo man deutlich mehr davon gebrauchen könnte?
Die Antwort darauf ist ähnlich kompliziert wie manche von Leischiks Vermisstensuchen.
Empfindlich wie eine umgetopfte Pflanze
Und hat auch mit dem Sonntagvorabendsendeplatz zu tun, der für den Sender Zauber und Fluch zugleich ist. Zwar haben sich dort für Sat.1 einige der größten (und langlaufendsten) Formathits entwickelt; die lassen sich aber nicht so einfach woandershin umtopfen, ohne im Zweifel größeren Schaden daran zu nehmen – wie eine Pflanze, die von ihrem angestammten Platz weggerückt wird.
Mit dem "Großen Backen", das inzwischen mittwochs die Primetime füllt, ist zwar genau das gelungen. Aber als Sat.1 seine sonntags etablierte Abspeck-Show "The Biggest Loser" zu Beginn des Jahres auf den Montagabend umzog, scheiterte dieser Versuch grandios (und zum wiederholten Male).
Kurioserweise lief auch "Julia Leischik sucht" nach dem Wechsel seiner Hauptprotaginistin zu Sat.1 kurzzeitig in der Primetime: 2013 war das – und nach wenigen Folgen schon wieder Pause. Seitdem haben die Episoden sonntags gegen 19 Uhr ihren Stammplatz und sammeln dort oft so viel Privatsender-Publikum ein wie sonst nur noch "RTL aktuell". Bei DWDL.de war zuletzt von einem "wahren Reichweitenschub" für Sat.1 am Vorabend die Rede. Bei den jüngeren Zuschauer:innen ist das Interesse seit jeher allerdings deutlich geringer – und das könnte die zweite Hürde sein, das Format (erneut) in den Hauptabend zu holen.
Keine Ausdauer für die Weiterentwicklung
Obwohl die Programmfarbe Sat.1 gut zu Gesicht steht, tut sich der Sender bislang schwer, Leischik ein Primetime-Format zu bauen, das ihren Stärken entgegenkommt und gleichzeitig für ein jüngeres Publikum attraktiv wäre.
"Das Haus am Meer mit Julia Leischik" war vor zwei Jahren ein solcher Versuch: eine Mischung aus "Bitte melde dich" und "First Dates Hotel" mit Ostseepanormafenster für tiefergehende Gespräche über Zwischenmenschlichkeiten. Das ging – leider – völlig unter (vier Folgen, bei Joyn+ ansehbar). Und wie so oft bei Sat.1 fand sich nachher auch niemand, der sich die Mühe machen wollte, das Format weiterzuentwickeln, ihm einen weniger kryptischen Titel zu geben und eine neue Chance auf einem anderen Sendeplatz.
So muss man in Unterföhring fortan damit leben, zwar in den Genuss zu kommen, am Sonntag regelmäßig ganz oben in der Liste der meistgesehenen Sendungen im Privatfernsehen aufzutauchen – diesen Erfolg aber nicht so für sich nutzen zu können, wie es möglich (und verdient) wäre.
Vielleicht fragt man bei der Suche nach dem richtigen Rezept dafür mal ein paar Leute, die sich mit sowas auskennen: die hartnäckig und freundlich sind, nicht ans Aufgeben denken und auch den kleinsten Spuren folgen, um ans Ziel zu kommen. Falls in der Chefetage des Senders jemand deren Nummer braucht, hätte ich einen Tipp: Die wird jeden Sonntagvorabend zwischen 18.55 Uhr und 20 Uhr für alle Zusehenden im Programm von Sat.1 eingeblendet.
Und damit: zurück nach Köln.
Neue Folgen von "Julia Leischik sucht: Bitte melde dich" laufen sonntags ab 18.55 Uhr in Sat.1 und bei Joyn.