Frau Brandt, Mitte September haben Sie sich mit Karola Wille und Klaus Brinkbäumer selbstkritisch gezeigt. Damals wurden drei Ziele (jünger werden, mehr Bevölkerungsschichten erreichen, digitaler werden) und drei Offensiven (regionale Information, mehr Doku-Serien und junge Kultur) angekündigt. Was bedeutet das nun konkret für Ihre Programmdirektion in Halle?

Jana Brandt: Die Programmdirektion Halle ist vor allem für die Kultur und junge Angebote zuständig. Wir haben uns unsere Formate sehr gezielt auf die von Ihnen erwähnten Ziele und Offensiven angeschaut und daraus Konsequenzen abgeleitet: wo gibt es Lücken, die wir mit neuen Projekten füllen wollen. Welche Angebote wollen wir modernisieren und gibt es Formate, die möglicherweise auserzählt sind. Aus diesem Denk-Freiraum entsteht eine enorme Kreativität. Wir entwickeln mehrere Projekte, eins davon kann man derzeit schon in der Mediathek sehen.

Nämlich?

Das ist die "East Side Story", die wir explizit für eine junge Zielgruppe entwickelt haben. Eine starke Episoden-Doku über fünf Künstlerinnen und Künstler, die in der DDR geboren wurden und im vereinten Deutschland aufgewachsen sind. Es geht um Frustrationen, Ausgrenzung, Stolz auf die Heimat und den Umgang mit Klischees und Rollenbildern. Mit der Frage des dokumentarisch-seriellen Erzählens beschäftigen wir uns sehr intensiv. Da bringen wir uns perspektivisch auch noch stärker ein in die Mediathek des Ersten, Stichwort True Crime. Damit wollen wir regionale Aspekte mit dem globaleren Thema des dokumentarisch-seriellen Erzählens sowohl für den MDR, als auch für die Mediathek des Ersten, verbinden. Das sind zwei Dinge, über die wir sehr konkret nachgedacht haben. Aber bei weitem nicht die einzigen.

Was gehen Sie noch an?

Eine Frage, die nicht nur wir uns stellen, ist, wie non-linear-tauglich Magazin-Formate sind. Wir haben uns diese Sendungen ganz genau angesehen und haben uns im Fall des Kulturmagazins "artour" dazu entschieden, es unbedingt fortzuführen, weil es ein wundervolles Fenster in die vielfältige Kulturlandschaft Mitteldeutschlands ist. Wir werden die Sendung aber auch verändern. So denken wir aktiv darüber nach, wie man über eine Monothematik, die sich dem "artour"-Gedanken unterordnet, mediathekstaugliche Einzelstücke unter dem vorhandenen Label machen kann. Das gehen wir 2022 an und das ist übrigens auch ein Weg, den "ttt" im Ersten geht. Das Magazin bleibt, aber gleichzeitig gibt es eine Erweiterung.

Kommt es auch bei anderen Magazin-Formaten zu Veränderungen?

Wir haben uns gemeinsam dazu entschlossen, "Echt" ab Sommer 2022 nicht weiterzuführen. Die Mitarbeitenden werden dann konkrete Projekte im dokumentarisch-seriellen Erzählen angehen. Diese Projekte werden hoffentlich nicht nur im MDR zu sehen sein, sondern auch im Ersten. Und dann gehört zur Programmdirektion Halle ja auch die Redaktion Religion mit all ihren Angeboten. Da haben wir das Magazin "Nah dran", das bislang zehnmal im Jahr erschienen ist und über das wir in letzter Zeit verstärkt nachgedacht haben.

 

"True Crime wird sicherlich im Ersten eine größere Rolle spielen."

 

Mit welchem Ergebnis?

Zuerst: Wir haben nicht wegen der dort verhandelten Themen oder der Machart darüber nachgedacht, sondern wegen des Erscheinungsrhythmus. Dadurch, dass es nur zehn Ausgaben pro Jahr gab, konnte gar nicht eine solche Relevanz entstehen, die die Themen haben sollten. Auch hier wollen wir künftig lieber serielle Dokumentationen oder dokumentarische Einzelstücke bringen. Unser Veränderungswillen gleicht da sehr dem des Ersten. Und warum ich das so sehr betone?

Wieso?

Die Frage, wie einerseits der Osten im Ganzen und der MDR im Speziellen in der Wahrnehmung des Gesamtangebots der ARD relevant vorkommt, ist uns sehr wichtig. Wir setzen auf Themen und Macharten, die sowohl im MDR-Umfeld wie auch im Ersten und der Mediathek funktionieren. Das gehen wir derzeit intern, aber auch mit den Produzentinnen und Produzenten Mitteldeutschlands sehr konkret an.

Gibt es weitere Veränderungen bei bestehenden Produktionen?

Bei den "Lebensläufen" wollen wir die Erzählperspektive verbreitern und vor allem den Personenkreis, den wir porträtieren, breiter fassen. Bislang waren das eher Menschen in einem höheren Alter, mit hoher beruflicher Erfahrung. Das erweitern wir. Die Idee ist auch weiterhin ein Format, das in der Kultur tätige Menschen porträtiert. Nur eben deutlich vielfältiger. Damit öffnen wir das Format für einen noch größeren Kreis - gerade unter den jüngeren Nutzerinnen und Nutzern gibt es ein hohes Bedürfnis nach Kultur. Dem kommen wir mit dieser Reihe in der Mediathek nach. Ob sie auch da "Lebensläufe" heißen wird, werden wir sehen.

Wie sind denn die Reaktionen intern und extern? Es gab zuletzt ja durchaus Kritik, wenn es etwa darum ging, die Magazine im Ersten umzubauen und die Mitarbeitenden mehr im Bereich des dokumentarisch-seriellen Erzählens machen zu lassen.

Da hat es einen sichtbaren Wandel gegeben. Die Reaktionen nach der Erstveröffentlichung der Pläne der neuen ARD-Programmdirektion und die Redaktionen nach der zweiten Veröffentlichung letzten Freitag, als die Dinge ja schon sehr viel klarer waren, haben sich spürbar unterschieden. Die Transformation, und so machen wir es auch hier im MDR, soll auch die mitnehmen, die derzeit für den Veränderungsprozess verantwortlich zeichnen. Da gibt es unterschiedliche Ideen und Vorgehensweisen. Wir haben uns dazu entschieden, in den Bereichen, die von den Veränderungen betroffen sind, auch die neuen Produktionen anzusiedeln. Hier gibt es also keine neuen Zuständigkeitsbereiche, sondern ein gemeinsames Weiterentwickeln und einen gemeinsamen Aufbruch. Wir wollen alle Mitarbeitenden und auch die Produzentinnen und Produzenten mit ihrer Kreativität auf dem Weg der Veränderung mitnehmen.

 

"Es muss nicht immer unbedingt eine Ausstrahlung in der Nacht sein."

 

Also keine Proteste der MDR-Mitarbeitenden?

Wann immer wir mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Senders sprechen, aber übrigens auch mit den Produzenten der konkreten Formate, merken wir eine große Bereitschaft und Lust auf Neues. Es bleiben ja auch ganz viele Formate so, wie sie sind. Wir wollen unser Angebot schlicht erweitern. Natürlich geht Neugier aber auch immer mit ein wenig Skepsis einher. Das ist menschlich und völlig normal. Diese Skepsis und das Mitnehmen aller betroffenen Personen ist die Aufgabe von uns Führungskräften, die wir dafür zuständig sind. Die konkrete Formulierung der Ziele macht es aber eben auch klarer als vorher, wohin die Reise geht. Das macht Spaß und sorgt für Motivation.

Wie viel Geld steht Ihnen im sogenannten Transformationsbudget eigentlich zur Verfügung?

Die genaue Höhe kommunizieren wir nicht. Es ist ein Prozentsatz, der im Vergleich zu dem Gesamtbudget des MDR überschaubar ist, mit dem wir aber genug erreichen können. Wir gehen den nächsten Transformationsschritt, dann den nächsten und so weiter, sodass die Bewegung hin ins Nonlineare eine dauerhafte und sich steigernde ist. Dabei bewegen wir uns im Rahmen der genehmigten Telemedienkosten.

Sie nannten bei den Doku-Serien eben speziell True Crime als Genre. Ist das für Sie das Genre der Stunde, auf das Sie sich nun fokussieren? Einige Produzenten stöhnen ja schon

True Crime hat den Charme, dass sich Regionalität paart mit einem gleichzeitig globalen Interesse auf ein Genre. Das ist im Fiktionalen nicht anders. Das ist eine Facette, aber sicherlich nicht die einzige. Religion und Diversität sind andere Themen, die wir im Bereich des seriellen Erzählens angehen wollen. Da ist die Spannbreite deutlich größer als nur True Crime. Wir hatten gerade auch die Serie "Kosmonaut Nr. 1" rund um Juri Gagarin im Programm, sowohl in der Mediathek als auch im MDR. Das war ein tolles Format, weil wir Archivmaterial neu gewichtet und in einen neuen Erzählrhythmus gepackt haben, um gleichzeitig für die Geschichte und die Person eine andere Perspektive einzunehmen. Das lief sowohl in der Mediathek als auch linear extrem gut, mit der Serie haben wir viele jüngere Menschen erreicht. Auch so etwas ist dann eben gemeint, wenn es um Doku-Serien geht. Und natürlich gibt es auch künftig einzelne Dokumentationen zu gewissen fiktionalen Highlights. True Crime wird sicherlich im Ersten eine größere Rolle spielen.

Welche Bedeutung haben die neuen Doku-Serien für das lineare Fernsehen?

Da verweise ich gerne auf "Kosmonaut Nr. 1", das wir auf unserem seriellen Vorabend-Sendeplatz um 19:50 Uhr gezeigt haben, also mitten in unserer Prime Time. Diese Art von Programm hatten wir da nie gespielt, und es war sehr erfolgreich. Es gab keinen Unterschied zu anderen Formaten, die wir dort sonst zeigen. Das hat uns positiv gestimmt über die Programmierungsmöglichkeiten, die man hat, wenn es um die Nachnutzung von Inhalten geht, die eigentlich primär für die Mediathek produziert wurden. Es geht darum, möglichst viele Menschen mit einem Programm zu erreichen. Da ist für uns alle Überraschendes möglich: Es muss nicht immer unbedingt eine Ausstrahlung in der Nacht sein. Natürlich wird es nicht immer so funktionieren wie bei "Kosmonaut Nr. 1", aber die Quote ist eben auch nicht alles, gerade, wenn es eine erfolgreiche Erstveröffentlichung in der Mediathek gab.

Neben den veränderten Sehgewohnheiten gibt es die US-Streaminganbieter, die gefühlt alle vor sich hertreiben. Wie sehr ärgert es Sie, dass es globale Plattformen gebraucht hat, damit sich die deutschen Fernsehanbieter wandeln - auch die Öffentlich-Rechtlichen?

Die finanzielle Kraft, die hinter den Streamingdiensten steht, ist beeindruckend. Insofern ist es eine Frage der Quantität und der Veröffentlichungsmöglichkeiten von sehr unterschiedlichen, übrigens nicht immer exzellenten, Programmen. Wenn ich mich an mein früheres, fiktionales Leben erinnere, hat mich die Frage mehr beschäftigt. Aber da habe ich sie für mich immer klar beantwortet: Bei fiktionalen Serien konnten und können wir mithalten, haben sie in der Vergangenheit aber nicht immer so ins Schaufenster gelegt, wie man sie hätte legen können. Horizontal erzählte Serien wie zum Beispiel "Weissensee" gab es schon vor Netflix, da mussten wir nicht erweckt werden. In Menge, Breite und Vielfalt, was die Dienste anbieten, ist es eine Herausforderung für uns. Aber mich lähmt das nicht, es spornt mich positiv an Inhalte zu entwickeln, die sich mit denen der Konkurrenten messen lassen können. 

Aber der Trend hin zu Doku-Serien wurde zuletzt doch vor allem durch Streamingdienste befeuert. 

Unterschiedliche Länder haben unterschiedliche Erzählweisen und Traditionen. Das gilt auch für das Dokumentarische und natürlich müssen wir da auch über Erzählperspektiven nachdenken. Deutschland ist bislang sehr geprägt gewesen durch Einzelstücke. Und natürlich können wir darüber sprechen, ob wir das durch Doku-Serien ablösen sollten. Das ist eine Bewegung, die der im Fiktionalen in nichts nachsteht. Und auch das verstärkte Investment in Doku-Serien heißt ja nicht, dass es den großen Dokumentarfilm, die einzelne Dokumentation oder auch das Magazin künftig nicht mehr geben wird. Es ist eine Bereicherung von erzählerischen Möglichkeiten.

Sie sind jetzt einigen Monaten Programmdirektorin in Halle, zuvor waren Sie Fiction-Chefin im MDR. Wie schwer ist es Ihnen eigentlich gefallen, den Film- und Serienbereich hinter sich zu lassen?

Nicht so schwer, wie ich dachte. Da in der Programmdirektion Halle die Kultur in ihrer Vielfalt angesiedelt ist, gibt es immer einen inhaltlichen Bogen zum Film. In meinem vergangenen, sehr fiktional geprägten Berufsleben habe ich vieles machen können. Von der Weekly bis hin zur Daily, Einzelfilmen, Reihen und horizontalen Serien habe ich alles gemacht, was ich machen wollte. So ist dort nichts unerfüllt geblieben. Insofern ist mir der Schritt leicht gefallen. 

Frau Brandt, vielen Dank für das Gespräch!