Herr Bergmann, viele, die zum Fernsehen gehen, tun dies in der Absicht, eine große Masse an Menschen zu erreichen. Wie verhält sich das eigentlich bei Ihnen und Arte?

Wir sind nicht anders als andere. Natürlich wollen wir so viel Publikum wie möglich erreichen. Das ist ein entscheidender Punkt, der uns tagtäglich antreibt. Gleichwohl entscheidet nicht die Masse alleine über Klasse und Qualität.

Wie schwierig ist der Spagat, anspruchsvolles Fernsehen zu machen, dabei aber nicht abgehoben zu wirken?

Das ist eine Frage der Tonalität. Das Publikum ist zurecht sehr sensibel und nichts ist schlimmer, als wenn sich einer aufspielt und die alleinige Wahrheit für sich pachtet. Das können wir gar nicht, wenn wir ein internationales Programm machen – und wir wollen es auch nicht. Unsere Stärke liegt darin, die Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, beispielsweise in Form von Reportagen oder den großen Investigationen am Dienstagabend. Wir wollen dabei weder oberlehrerhaft sein noch alles durch die nationale Brille erklären. Nur so lässt sich aus unserer Sicht eine europäische Öffentlichkeit herstellen, die den Namen auch verdient.

Ist Arte aktueller geworden?

Wir sind sicher kein News-Sender, auch wenn wir mit unserem "Journal" täglich eine sehr gute Nachrichtensendung produzieren, deren Ziel es ist, besagte Perspektiven zu liefern. Gleichzeitig haben wir eine ganze Reihe an Programmen, die reaktiver sind und schneller als in den Anfangsjahren, die auf die sich rasant ändernde Welt eingehen können, insbesondere unsere werktägliche Reportage-Reihe "Re", die wir inzwischen im fünften Jahr betreiben. Damit sind wir zwar nicht tagesaktuell, können aber in relative kurzer Zeit auf Ereignisse in ganz Europa eingehen.

Wie bekannt ist Arte außerhalb Deutschlands und Frankreichs?

Die Bekanntheit ist in Europa inzwischen relativ weit verbreitet. Wir merken, insbesondere auch durch die Reaktionen auf unser inzwischen sechssprachiges Angebot auf arte.tv, dass Arte über Deutschland und Frankreich hinaus verstärkt genutzt wird. Mit der Mediathek, die mittlerweile so etwas wie eine Art Euroflix geworden ist, nur mit schönerem Namen, erreichen wir immer mehr Menschen überall in Europa.

Tatsächlich sieht die Arte-Website ein wenig aus wie Netflix mit Kultur-Inhalten. Sicher kein Zufall...

Wir mussten uns an niemandem orientieren. Arte gehört zu den Pionieren eines diversen, diversifizierten Online-Angebots. Die Tiefe unserer Website, die mit ihrer Reichhaltigkeit weit über Serien und fiktionale Angebote hinausgeht, spricht für sich. Da müssen wir uns hinter niemandem verstecken. Die Aufgabe besteht nun darin, dieses ein wenig verborgene Juwel noch bekannter zu machen. 

Wie soll das gelingen?

Natürlich gehören dazu auch mehr Mittel für Werbung, die wir nicht zur Verfügung haben, weil wir im Grunde jeden Euro ins Programm stecken. Trotzdem sind wir zuversichtlich, durch die Qualität unseres Programms und Mund-zu-Mundpropaganda unseren Wachstumskurs weiter fortsetzen können. Die Zahlen sprechen dafür, wir bewegen uns im Jubiläumsjahr in Siebenmeilenstiefeln auf die Zwei-Milliarden-Abrufe-Marke zu. Das ist eine Zahl, die noch vor einigen Jahren unvorstellbar gewesen wäre.

 

"Wir sind zwar strukturell nicht ganz einfach, manche sagen auch kompliziert, aber wenn der Wille da ist, dann werden die Wege ganz kurz."

 

Wie hat sich die strategische Ausrichtung seit dem Start von Arte verändert?

Die deutsch-französische Gründungsromantik ist ein Stück einer pragmatischen und an der komplexen Konkurrenzsituation orientierten Professionalität gewichen. Außerdem zeigt sich gerade jetzt, dass der europäische Gedanke – und da rede ich nicht von der deutsch-französischen Freundschaft als dessen Rückgrat alleine – kein "nice to have" ist, sondern ein "must have". Es geht um Fortentwicklung und Verteidigung unserer kulturellen Vielfalt und unserer Freiheit. Das gilt über den deutschsprachigen Raum hinaus auch für Arte als dem einzigen multinationalen medialen Plattformverbund, der sich diesen Werten verpflichtet fühlt.

Ist Arte seiner Zeit ein Stück weit voraus gewesen, gerade wenn wir jetzt an den Krieg in der Ukraine denken, der den Zusammenhalt in Europa wieder gestärkt hat?

Nicht voraus, aber wir haben uns selbst die Frage gestellt, wie es sein konnte, dass wir all die Dokumentationen und Reportagen, in denen wir die Situation an der Ostflanke Europas im Grunde genommen erklärt haben, so falsch deuten konnten, dass wir den Ausbruch dieses Angriffskriegs auch nicht voraussagen konnten. Wir sind zwar in zahlreicher Gesellschaft, aber das ist doch etwas, das uns sehr zu denken gibt. Daraus ist nun eine ganz konkrete Programminitiative entstanden, die am 7. Juni um 22:45 Uhr ihre Premiere feiern wird: Auf der Basis unserer "Tracks"-Plattform starten wir eine neue Sendereihe, in der wir insbesondere Journalistinnen und Journalisten aus dem Osten versammelt haben, um ein neues Magazin zu machen, "Tracks East". Es geht darin nicht nur um den Krieg, sondern um all die kleinen und großen kulturellen und gesellschaftlichen Phänomene, die in dieser Situation in einem Milieu entstehen, das vielleicht die Zukunft nach dem Krieg bauen wird. Wir stellen junge Menschen in den Mittelpunkt, die wirklich etwas zu erzählen haben. 

  • Preisregen für Arte in Cannes

    Die Arte-Koproduktion "Triangles of Sadness" von Ruben Östlund hat am Wochenende beim 75. Festival de Cannes die Goldene Palme und den CICEA-Preis gewonnen. Es ist die 12. Goldene Palme, die Arte für eine Koproduktion erhält - ein schönes Ereignis zum 30. Geburtstagsjahr des Senders. Beim 75. Festival de Cannes war der Kultursender mit 33 Koproduktionen vertreten.

Auch während Corona haben Sie bewiesen, dass Arte durchaus schnell reagieren kann, etwa in Form von Konzerten, die Sie kurzerhand ins Programm genommen haben.

Wir sind zwar strukturell nicht ganz einfach, manche sagen auch kompliziert, aber wenn der Wille da ist, dann werden die Wege ganz kurz. Es war für uns alle im Team, für Franzosen wie Deutsche, eine tolle Erfahrung, wie schnell wir reagieren konnten. Und das ist beim Publikum angekommen. Gerade in der Corona-Zeit hat man von Kulturprogrammen wie Arte einen kulturellen Ersatz erwartet und wir haben geliefert.

Manch einen mag es überraschen, dass Arte ein recht junges Publikum anspricht. Warum gelingt Ihnen, womit sich andere öffentlich-rechtliche Sender oft schwer tun?

Mich wundert das eigentlich gar nicht. Warum sollen sich junge Menschen nicht für kulturelle Dinge interessieren? Man will sich vielleicht nicht jeden Tag, in jeder Stunde, in jeder Situation mit etwas Gewichtigem auseinandersetzen. Aber dass das eine Frage des Alters wäre, kann ich nicht erkennen. Übrigens noch nie in meiner inzwischen recht langen Laufbahn als kulturvermittelnder Fernsehmensch. Wichtig ist, dass man schaut, über welche Wege man die Menschen erreicht. Deswegen war es richtig, dass Arte früh, als einer der ersten Sender verstanden hat, dass das lineare Fernsehen alleine in Zukunft nicht mehr ausreichen wird, um insbesondere jüngere Menschen anzusprechen.

Hilft es der Marke Arte, wenn Ihre Inhalte auch in den Mediatheken von ARD und ZDF vertreten sind?

Wenn wir bei YouTube sind, warum sollten wir dann nicht bei unseren Müttern und Vätern sein? 40 Prozent des gesamten Arte-Programms werden von ARD und ZDF produziert oder koproduziert. Ich finde es super, wenn unsere Programme auch anderswo zu sehen sind. Die Zuordnung zu unserer Marke funktioniert eigentlich recht gut. Hören Sie sich gerne mal um: Uns kennen sehr viel mehr Menschen als uns linear zuschauen.

 

"Es kann gar nicht genug Kultur-Marken geben."

 

Das ZDF hat inzwischen seine Marke ZDFkultur reaktiviert, die ARD arbeitet ebenfalls an einer eigenen Kulturplattform. Ist das in Zeiten, in denen es auf die Fokussierung auf einige wenige Marken ankommt, aus Ihrer Sicht der richtige Weg? 

Ich möchte dem entgegnen: Es kann gar nicht genug Kultur-Marken geben. Trotzdem muss man natürlich schauen, die einzelnen Marken so stark zu machen, dass die Leute sie auch kennen. Da ist es wichtig, eine gewisse Trennschärfe zu behalten. Bei Arte mache ich mir keine Sorgen, weil unser Alleinstellungsmerkmal durch unsere Struktur gegeben ist. Es gibt kein vergleichbares Angebot in Deutschland und Europa. Keine nationale Kultur-Plattform wird dazu eine Konkurrenz entwickeln. Im Gegenteil: Wir werden uns austauschen und uns gegenseitig stärken.

Seit einigen Jahren engagiert sich Arte verstärkt im Serien-Bereich. Warum eigentlich, wo es doch an seriellen Angeboten wahrlich nicht mangelt?

Ich gehöre zu denjenigen, die bei uns im Haus zunächst skeptisch auf das Engagement im Serienbereich blickten. Das gehört sicherlich zu den Fehleinschätzung in meinem beruflichen Leben, denn die Serie ist zu einem zentralen kreativen Treiber der Fiktion auf der ganzen Welt geworden. Arte hat hier ein unverwechselbares Angebot entwickelt, weil wir uns auf europäische Serien konzentriert haben und durch die Breite unseres Angebots Produktionen zeigen können, die ansonsten wenig Aufmerksamkeit bekommen hätten. Ein wunderbares Beispiel, das wir den Kollegen der ARD verdanken, ist die Serie "Diener des Volkes" mit dem heutigen ukrainischen Präsidenten Selenskyj, die wir schon anderthalb Jahre vor dem Kriegsausbruch im Programm hatten. 

Was bleibt, sind oft die sprachlichen Barrieren. Ein Problem?

Das Elend der babylonischen Sprachverwirrungen ist nach wie vor eines der Hauptgründe dafür, dass wir uns in Europa manchmal etwas schwer tun im gegenseitigen Verständnis. Dagegen können wir aber etwas tun, etwa mit Übersetzungen und Untertitelungen. Außerdem bin ich gespannt, was Sprachprogramme mit künstlicher Intelligenz an dieser Stelle in Zukunft leisten können, um die Barrieren in Zukunft noch besser zu überwinden.

Abschließende Frage: Was schaut der Arte-Geschäftsführer, wenn er mal nicht das eigene Programm sieht?

(überlegt) Ich schaue ganz traditionell als eines der letzten verbliebenen Rituale in meinem Leben abends die "Tagesschau" und später das „heute-journal“. Ansonsten bin ich ein großer Freund von Naturdokumentationen, die es bei Arte in großer Zahl gibt, die ich aber auch bei anderen Programmen finde. Und ganz heimlich schaue ich auch mal "Don't Look Up" bei Netflix. (lacht)

Herr Bergmann, vielen Dank für das Gespräch.

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