Herr Bergmann, Ihre Mandantin Lijana Kaggwa darf laut Beschluss des Landgerichts Hamburg weiter öffentlich über "Germany's Next Topmodel" sagen, dass dort "ganze Handlungen vorgeschrieben" sind. Außerdem hat das Gericht die vertragliche Schweigepflicht in einer Zwischenverfügung als unwirksam eingestuft. Ist das jetzt der juristische Freibrief für sämtliche Reality- und Castingshow-Kandidaten, zu Whistleblowern über Missstände hinter den Kulissen zu werden?

Simon Bergmann © Till Brönner Simon Bergmann, als Anwalt auf Medien-, Presse- und Sportrecht spezialisiert, Partner der Berliner Kanzlei Schertz Bergmann
Ein genereller Freibrief ist das nicht. Es kommt immer auf den Einzelfall an. Grundsätzlich dürfen die Kandidatinnen auch weiterhin keine falschen Tatsachenbehauptungen verbreiten – oder genauer gesagt: keine Tatsachenbehauptungen, die sie nicht beweisen können. Im konkreten Fall musste meine Mandantin drei Verträge unterzeichnen und in allen findet sich eine gleichlautende Geheimhaltungsklausel, die es ihr untersagt, jemals über irgendwas im Zusammenhang mit den Produktionsbedingungen zu reden. Das ist eine sogenannte "Catch-All-Klausel", quasi ein lebenslanger Maulkorb. In der Vergangenheit haben solche Klauseln dazu geführt, dass Teilnehmerinnen sich nicht an die Öffentlichkeit gewagt haben. Anlass dazu hätte es sicher gegeben, aber das Drohpotenzial schien wohl zu übermächtig.

Was ändert sich daran durch den Fall Kaggwa?

Lijana hat im Mai für sich entschieden, dass sie es in Kauf nimmt, falls man sie verklagt. Das verheerende Cybermobbing, dem sie nach ihrer Teilnahme an "Germany's Next Topmodel" über lange Zeit ausgesetzt war, ist auf die Manipulationen durch Redaktion und Produktion zurückzuführen, die ihr in der Show ein Charakterbild zugewiesen haben, das nicht der Realität entspricht. Lijana war insofern sehr mutig, weil sie das Gefühl hatte, sie müsse die Missstände öffentlich machen, egal ob sie eine Geheimhaltungsklausel daran hindert oder nicht. Die Gegenseite hatte wohl schon geahnt, dass die Klausel rechtlich problematisch sein kann und sich deshalb nur hilfsweise darauf berufen. Der Hinweis des Gerichts veranlasste sie dann dazu, diesen Aspekt fallen zu lassen. Mutmaßlich wollte man ein Präzedenzurteil vermeiden, in dem das Gericht schriftlich begründet, warum eine solche umfassende Schweigepflicht unwirksam ist.

 

"Ich gehe davon aus, dass Sender und Produktionsfirmen ihre Verschwiegenheitsklauseln im eigenen Interesse überarbeiten werden"
Rechtsanwalt Simon Bergmann

 

Streng juristisch also kein Präzedenzfall, aber für die TV-Branche trotzdem Anlass zum Innehalten?

Das wird sicher Leuchtturmcharakter haben, weil man sich künftig nun mit sehr guten Chancen auf die Unwirksamkeit einer solchen Klausel berufen kann. Ich gehe davon aus, dass Sender und Produktionsfirmen ihre Verschwiegenheitsklauseln im eigenen Interesse überarbeiten werden. Wenn ich mir vorstelle, ich wäre die Gegenseite und würde meiner Geheimhaltungsklausel vertrauen, dann hätte ich doch das ganze Video verbieten lassen und nicht nur ein paar Sätze aus insgesamt zwei halbstündigen Videos von Lijana.

Das Landgericht Hamburg hat in zwei Beschlüssen vom 5. und 13. Juli insgesamt sechs von 13 beanstandeten Tatsachenbehauptungen verboten.

Korrekt. Das heißt, dass Lijana aus über einer Stunde Material nur sechs kurze Passagen herausschneiden muss. Die Videos mit dem Kern ihrer Kritik können weiter ausgestrahlt werden. Sie darf weiterhin sagen: Wir wurden manipuliert, uns wurden Handlungsstränge vorgeschrieben.

Heidi Klum, Lijana Kaggwa, GNTM Finale 2020 © Screenshot ProSieben "Statement gegen Mobbing": Lijana Kaggwa stieg im Mai 2020 vorzeitig aus dem "Topmodel"-Finale aus

Lijana beschreibt in ihren Videos detailliert, wie am Set Druck ausgeübt worden sei, wie man sie gegen andere Kandidatinnen aufgestachelt und gezielt unsympathisch dargestellt habe. Dem könnte man entgegenhalten, dass man nach 16 Jahren "Germany's Next Topmodel" in etwa weiß, worauf man sich einlässt.

Eben nicht. Bis zu Lijanas Videos wussten die meisten Menschen nicht, was genau hinter den Kulissen passiert. Mich selbst eingeschlossen. Ich habe 2020 durch Zufall im Urlaub ein paar der Folgen mit Lijana zusammen mit meiner damals 13-jährigen Tochter gesehen. Wir waren beide der Meinung: Was für eine Zicke, so arrogant und überheblich! Inzwischen habe ich sie als höchst sympathische, reflektierte und empathische Person kennengelernt. Ich muss ganz offen zugeben, dass bei uns genau das Bild entstanden ist, das von der Produktion erzeugt wurde. Deswegen sind ihre Erläuterungen so wichtig – um ein breiteres Publikum aufzurütteln. Natürlich wird man immer Kandidatinnen finden, die zu allem bereit sind und das mit sich machen lassen. Vielleicht sind es künftig ein paar weniger. Vielleicht sieht sich die Produktion auch aufgerufen, ein paar Dinge zu ändern.

 

"Ich finde das Format demütigend und menschenverachtend. Das ist auch ein Fall für die Landesmedienanstalten"
Rechtsanwalt Simon Bergmann

 

Wie ist das überhaupt juristisch einzuordnen, wenn man sich freiwillig in ein solches TV-Regime begibt, das einen drei Monate einpfercht, ohne eigenes Handy, ohne die Erlaubnis, spazieren oder einkaufen zu gehen, solange die Kamera nicht dabei ist? Kann man solche Rechte wirksam abtreten oder ist das sittenwidrig?

Eine spannende Frage, die ich mir auch schon gestellt habe. Das sind ja tiefgreifende Einschränkungen elementarer Freiheitsrechte. Zieht da noch das Argument der Freiwilligkeit? Grundsätzlich ja, aber nur in äußerst engen Grenzen. Da kommen wir dann zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit. Sollte es irgendwann mal zu einem Gerichtsverfahren über diese Frage kommen, könnte ich mir gut vorstellen, dass man das als unverhältnismäßig einstufen würde. Man kann ja nicht ernsthaft argumentieren, dass die Produktion gefährdet wäre, wenn die Teilnehmerinnen das Haus verlassen dürften. Die haben drei Monate so gut wie keinen Kontakt zur Außenwelt, träumen von der großen Modelkarriere und müssen lauter Sachen machen, die mit Modelkarrieren nichts zu tun haben. Da wird künstlich Zwietracht gesät, um die Dramaturgie anzuheizen und ein bestimmtes Rollenbild zu schaffen, von dem die jungen Frauen selbst gar nichts ahnen, weil sie das ausgestrahlte Material erst im Nachhinein zu sehen bekommen. Wenn's hart auf hart käme, würde das mutmaßlich zugunsten der Teilnehmerinnen ausgehen.

Wo kein Kläger, da kein Richter.

Mit den jetzigen Gerichtsbeschlüssen zugunsten meiner Mandantin verbinde ich, ehrlich gesagt, die Hoffnung, dass sich die eine oder andere Teilnehmerin traut, sich Lijanas Kritik anzuschließen. Denn mit dem Wissen um all die Hintergründe, die Lijana schildert, finde ich das Format wirklich demütigend und menschenverachtend. Das ist im Übrigen auch ein Fall für die Landesmedienanstalten.

Es gibt ja derzeit eine regelrechte Flut von Reality-Formaten mit sogenannten Promis. Müssen die sich als TV-erfahrene Personen mehr gefallen lassen?

Juristisch macht das keinen wesentlichen Unterschied. Niemand willigt bewusst darin ein, völlig falsch und verzerrt dargestellt zu werden. Ob Promi oder nicht – jeder hat ein unverrückbares Persönlichkeitsrecht. Wenn das verletzt wird, indem etwa durch eine geschickte Schnittfolge Dialoge zerrissen und in einen falschen Zusammenhang gebracht werden, und wenn man arglistig über die Hintergründe einer Produktion getäuscht wird, dann kann man seine vorab erteilte Einwilligung zur Ausstrahlung des Materials unter Umständen widerrufen. Da sollte man sich seiner Sache allerdings sehr sicher sein, denn das wäre eine echte Kriegserklärung und würde vermutlich Schadensersatzforderungen nach sich ziehen.

Herr Bergmann, herzlichen Dank für das Gespräch.

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