Es muss ein merkwürdiger Moment gewesen sein, als Dan Weiss und David Benioff Anfang 2017 zum siebten Mal mit Ramin Djawadi im Vorführraum saßen, um den Soundtrack von "Game of Thrones" zu besprechen. "Wir sehen uns grundsätzlich alle Folgen erstmal ohne Musik an", erzählte der deutsche Filmkomponist dem "CNET Magazine" kürzlich über seine  Arbeit mit den zwei amerikanischen Showrunnern, "und entscheiden gemeinsam, was jede Szene dramaturgisch erreichen will". Doch beim "Spotting" der 7. Staffel ist dem Duisburger aus Hollywood was Komisches aufgefallen: In den 60 Folgen zuvor war kein Piano zu hören.

Kein Piano?

Im melodramatischen Klangkosmos des neuen Kinos Serie wirkt das, als käme ein kalifornischer Actionblockbuster ohne Verfolgungsjagden aus oder das deutsche Abendprogramm ohne Mörder. Wuchtiger inszeniert, akribischer kostümiert, opulenter ausgestattet als jedes vergleichbare Produkt der vergleichsweise jungen Streaming-Historie, müsste sich dem Branchengesetz zufolge also ein zähflüssiger Klavierstrom übers horizontal erzählte TV-Epos wälzen – zumindest dort, wo noch Platz unterm Geigenteppich ist, der solche Serien gemeinhin bedeckt.

Dann aber hört man dieses einsame Cello, das schon in der Titelmelodie wie Herbstlaub durch den mittelalterlichen Fantasy-Kosmos von Westeros weht. Weit öfter jedoch hört man: Nichts. Nur Dialoge, Stimmung, Geräusche. Wo andernorts lückenloser Lärm herrscht, gönnt Ramin Djawadi seiner Vertonung gern eine Lautlosigkeit, die zu brüllen scheint. Und genau das kennzeichnet auch den zweiten Geniestreich des Klangkünstlers aus dem Ruhrpott: "Westworld". Wenn die grandiose HBO-Serie zur hochaktuellen Frage, ob Roboter womöglich die besseren Menschen sind, heute bei Sky ins Staffelfinale geht, sorgt er also erneut für fesselnde Spannung – mit ungleich mehr Noten als bei "Game of Thrones", frei von Effekthascherei.

Wie ein Zahnarztbohrer legt sie sich sein Sound am Rande des Hörbaren über windschief schönes Klavierspiel, wenn der Erlebnispark-Gründer Arnold Weber (Jeffrey Wright) mit dem Maschinenwesen Dolores (Even Rachel Wood) erörtert, was human ist und was binär. Als die "Host" genannte Androidin entgegen ihrer Programmierung zum Killer mutiert, verhallt der Klang einer einsamen Violine so eingeschüchtert wie die Hoffnung auf ein friedliches Nebeneinander von echter und künstlicher Intelligenz. Synthetische Achtzigernostalgie vermengt sich mit klassischen Orchesterarrangements zu einer Kollage, die alle Zeitachsen durchbricht. Und wenn Ramin Djawadi ein Gemetzel im japanischen Shogun-Park mit zersägten Samples des Stones-Evergreens Paint it, Black garniert, fragt sich endgültig: Wie kann es sein, dass dieser Gitarrenvirtuose einst ein Schüler Hans Zimmers war?

Antwort: Alles eine Frage der Emanzipation. Wie sein Mentor schon als Jugendlicher aus der Mitte Deutschlands in die Welt gezogen, hat der hessische Blockbusterkönig seinen Protegé schließlich nur auf den Weg gebracht. Als der Sohn einer Deutschen mit persischem Vater 1998 das renommierte Berklee College of Music in Boston mit Bestnote verlassen hatte, war Hans Zimmer auf den damals 23-Jährigen aufmerksam geworden und ließ ihn bei Popkornkino wie Fluch der Karibik oder Batman hospitieren. Anfangs schien es, der junge Multiinstrumentalist würde vom Sprungbrett direkt in den Fußstapfen seines Lehrers landen. Frühes Massenentertainment wie Iron Man oder Kampf der Titanen dröhnte ja ähnlich laut wie die passgenauen, aber aufdringlichen Soundgewitter des Altmeisters. Spätestens mit der Emmy-prämierten Titelmelodie zur Knastserie "Prison Break" aber bog Djawadi 2007 vom akustischen Mainstream in den Seitenarm des Eigensinns ab. Dorthin also, wo die "irre Macht der Filmmusik", wie er der FAZ mitteilte, auch mal "das Gegenteil dessen verkörpert, was gerade gezeigt wird".

Als ihm vier Jahre später "Game of Thrones" angeboten wurde, war er damit so erfolgreich, dass er den Score fast ausgeschlagen hätte. "Ich war eigentlich zu beschäftigt", erinnerte er sich in der "CNET" an damals. Doch "weil ich lieber drei Monate nicht schlafen, als dieses Riesenprojekt absagen wollte", hat das Fernsehen nun einen Großkompositor, der sich mehr als viele Kollegen abseits der zertrampelten Pfade bewegt. Seinen Stil beschreibt er kunstsinniger als es das profane Medium vermute ließe: "Ich sehe Töne als Farben." Kein Wunder, dass er Soundtracks als Gemälde betrachtet.

Während sein Pinselstrich unter Zimmers Ägide den Pop-Kathedralen von Damien Hirst oder Jeff Koons glich, erinnert "Westworld" an den verstörenden Expressionismus eines Daniel Richter. Und "Game of Thrones"? Caravaggio, vielleicht Goya, barocke Realisten mit großem Gespür fürs Entertainment, aber noch größerem für Wirkung, Atmosphäre, Details. Es klingt bei aller Zurückhaltung so wuchtig, akribisch, so opulent, dass Ramin Djawadi damit gerade auf Bühnentour durch Europa ist. Und weil er beim Spotting mit Showrunner entschieden hat, dass endlich Platz fürs Klavier im Soundtrack sei, steht sogar eins im Orchester. Der Duisburger in Hollywood hat sich das redlich verdient.