Welchen Stand der ORF in Österreich hat, zeigt sich alle fünf Jahre, wenn es für den Stiftungsrat, eine Art Aufsichtsrat der öffentlich-rechtlichen Anstalt, darum geht, einen neuen Generaldirektor bzw. Generaldirektorin zu wählen. Schon seit Monaten wird über mögliche Bewerberinnen und Bewerber spekuliert. In Zeitungen wird über die Chancen der Personen geschrieben, die sich zur Wahl stellen. Und natürlich geht es in erster Linie auch darum, wen die Politik für den Posten befürwortet. 

Verglichen dazu war der Wahlkampf zwischen Norbert Himmler und Tina Hassel vor wenigen Wochen um die ZDF-Intendanz quasi nicht existent. In Deutschland dürften wohl nur wenige Menschen fernab der Medienbranche mitbekommen haben, dass Anfang Juli mit dem ZDF-Chefposten einer der wichtigsten Medienjobs des Landes neu vergeben wurde. In Österreich ist das anders, quasi täglich gibt’s neue Berichte über die Bewerberinnen und Bewerber und ihre Pläne, selbst beim ProSiebenSat.1-Sender Puls24 gab's eine "Elefantenrunde", in der das Thema diskutiert wurde. Das hat auch mit der Bedeutung des ORF zu tun: Der öffentlich-rechtliche Sender ist das mit Abstand größte Medienunternehmen in Österreich. Es ist größer als das Red Bull Media House und die Mediaprint auf den Plätzen zwei und drei zusammen. Mediaprint ist der marktbeherrschende Print-Verlag in Österreich. 

In diesem Jahr blickt die Öffentlichkeit noch gebannter auf die ORF-Wahl am 10. August, denn es ist in erster Linie die Politik, die entscheidet, wer den ORF ab 2022 führt. Anders als in Deutschland sind formal zwar alle Mitglieder des Stiftungsrates unabhängig von der Politik, in der Realität können die meisten dennoch einer Partei zugeordnet werden.Neun Mitglieder des 35-köpfigen Gremiums werden von der Bundesregierung in den Stiftungsrat entsandt. Je ein Mitglied kommt aus den neun Bundesländern, sechs weitere entsendet die Bundesregierung unter Berücksichtigung der Kräfteverhältnisse der Parteien im Nationalrat. Das sind in Summe schon 24 Stiftungsräte, die direkt von der Politik bestimmt werden. Sechs Mitglieder kommen aus dem Publikumsrat, auch hier entscheiden die Parteien. Fünf weitere werden vom Betriebsrat bestimmt - auch hier gibt es Tendenzen. Hinzu kommt: Abstimmungen im Stiftungsrat finden offen statt, damit mögliche Abweichler identifiziert werden können. Dass ausgerechnet FPÖ-Chef Herbert Kickl zuletzt eine Einführung der geheimen Wahl forderte, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. War es doch seine FPÖ, die diese geheime Wahl gemeinsam mit der ÖVP vor rund 20 Jahren abschaffte. Eben weil man Abweichler erkennen und austauschen wollte. 

Stimmenverteilung im ORF Stiftungsrat © DWDL.de Die Stimmenverteilung im ORF Stiftungsrat

Dass die Politik in Sachen ORF-Führung in diesem Jahr unter besonderer Beobachtung steht, hat gute Gründe. Schon seit Monaten steht die Regierung wegen vermeintlichem Postengeschacher in der 26-Milliarden-Staatsholding ÖBAG in der Kritik. Im Rahmen des Ibiza-Untersuchungsausschusses wurden SMS-Nachrichten öffentlich, die nahelegten, dass ÖBAG-Chef Thomas Schmid nur wegen seiner guten Beziehung zu Bundeskanzler Sebastian Kurz und seinem Team Vorstandsvorsitzender wurde. Die inzwischen legendärsten SMS: "Kriegst eh alles, was du willst" (mit Kuss-Emoji) von Kurz an Schmid. Und: "Ich liebe meinen Kanzler" von Schmid an Kurz. 

Roland Weißmann hat die besten Karten

Roland Weißmann © ORF/Thomas Ramstorfer Roland Weißmann
Schmid ist inzwischen zwar nicht mehr ÖBAG-Chef, die Nachrichten brachten aber Kurz in Verruf und besudelten das Image der ÖVP. Bei der Bestellung der neuen ORF-Führung will man nun möglichst verhindern, dass es nach Vetternwirtschaft aussieht. Deshalb betont die Partei auch immer wieder, dass die Wahl Sache des Stiftungsrates sei, der formal weisungsfrei ist. In der Realität sieht das jedoch anders aus: Dem Vernehmen nach hat sich der mächtige ÖVP-Freundeskreis im Stiftungsrat auf Roland Weißmann geeinigt, den bisherigen Vize-Finanzdirektor und Chefproducer im ORF. Das wird von einigen Medien schon als Vorentscheidung gewertet, denn die Stiftungsrats-Mitglieder mit ÖVP-Bezug stellen in dem ORF-Gremium die absolute Mehrheit.

Weißmann steht der ÖVP zwar nahe, betont aber, dass er kein Parteibuch hat. Und noch viel wichtiger: Er arbeitet schon seit vielen Jahren im Sender, bringt also Erfahrung mit. Bei einer möglichen Bestellung Weißmanns würde es wohl nur kurz zu Kritik kommen. Mit einem Aufstand innerhalb oder außerhalb des ORF ist nicht zu rechnen. Dennoch: Die "Tiroler Tageszeitung" zitierte im Frühjahr einen Informanten, der Weißmann als den "Thomas Schmid des ORF" bezeichnete. Schmeichelhaft geht anders. 

Die veröffentlichten Chats der ÖBAG-Affäre sind ein großes Pfund, mit dem auch der bisherige ORF-Chef, Alexander Wrabetz, wuchern kann. Wrabetz bezeichnete Weißmann zuletzt als den "Kandidaten von Fleischmann". Gemeint war Gerald Fleischmann, der der Medienbeauftragte der Bundesregierung ist. Wählt die ÖVP-Fraktion den amtierenden ORF-Chef, würde sich die Kanzler-Partei wohl am wenigsten dem Vorwurf aussetzen lassen, einen der ihren zum ORF-Generaldirektor zu wählen. Jetzt, da man endlich eine Mehrheit im Stiftungsrat hat, wäre es intern aber wohl nur schwer zu vermitteln, würde man Wrabetz wählen. Also jenen ORF-Boss, der bereits seit 2007 im Amt ist und den man noch 2016 versuchte loszuwerden. 

Schafft Wrabetz das Unmögliche? 

Alexander Wrabetz © ORF/Thomas Jantzen Alexander Wrabetz
Dass das gar nicht so einfach ist, hat Wrabetz in den vergangenen Jahren immer wieder bewiesen. Wrabetz, der dem SPÖ-Lager zugerechnet wird, soll einst sogar bei SPÖ-Kanzler Werner Faymann in Ungnade gefallen sein - und selbst der scheiterte, den ORF-Chef wieder loszuwerden. Wrabetz hat immer wieder bewiesen, dass er ungewöhnliche Koalitionen im Stiftungsrat bilden kann. Gewählt wurde er 2006 gegen die Stimmen der ÖVP und mit einem Bündnis aus SPÖ, Grünen, FPÖ und BZÖ. 2011 wurde er ohne großen Widerstand erneut gewählt, 2016 setzte er sich knapp gegen den damaligen ORF-Finanzchef Richard Grasl durch, der von der ÖVP unterstützt wurde. Der Wahlkampf war so schmutzig, dass Grasl den ORF daraufhin verließ. 

Für Wrabetz spricht auch, dass er den ORF gut durch die Coronakrise geführt hat. Das Unternehmen steht finanziell gut da, bei der Akzeptanz des Publikums liegt man ohnehin vor vielen anderen öffentlich-rechtlichen Anstalten in Europa. Wrabetz hat die Journalistinnen und Journalisten im Sender während seiner Amtszeit immer machen lassen und gegen Angriffe verteidigt. Gleichzeitig gab es aber auch immer Postenbesetzungen, hinter denen politische Interessen standen. Der ORF-Chef beherrscht den Balanceakt zwischen Politik und Journalismus nahezu perfekt. 

"Er ist kein Sesselkleber, er ist der Sessel."
Ein ORF-Mitarbeiter über Alexander Wrabetz im "Fleisch"-Magazin

Ein bisschen ist Alexander Wrabetz wie Angela Merkel. Oft wartet er ab und lässt so viel Zeit vergehen, bis sich Sachen von ganz alleine entscheiden. Als das österreichische Magazin "Fleisch" vor einigen Monaten ORF-Mitarbeitende und Journalistinnen und Journalisten zu Wrabetz befragte, bekam man aufschlussreiche Antworten. "Er ist kein Sesselkleber, er ist der Sessel", hieß es von einem Mitarbeiter. Seine größte Stärke sei es, nichts zu entscheiden, urteilte ein anderer. Und einen Politiker zitiert "Fleisch" so: "Mit Politikern hat Wrabetz einen ganz besonderen Umgang. Er gibt ihnen das Gefühl, dass er für sie da ist. Wenn jemand anruft und sich beschwert oder sich ungerecht behandelt fühlt, dann hört er sich das an. Und macht dann nichts. Er lässt es versanden. So nimmt er Druck raus." 

Nein, als Innovationstreiber gilt Alexander Wrabetz nicht. Vielmehr als Dompteur in der politischen Arena, der mit so ziemlich allen Akteuren gut kann, wenn er muss. Kritiker sagen, dass das Unternehmen leide, weil Wrabetz es allen in der Politik recht machen wolle. Auf der anderen Seite steht die unbestrittenen gute Arbeit der Journalistinnen und Journalisten des ORF, die eben auch deshalb ihren Job machen können, weil es ganz oben jemanden gibt, der sie machen lässt. Für den Amtsinhaber wird es aber ohne Zweifel schwer, seinen Job zu behalten. Zu klar scheinen die Machtverhältnisse im Stiftungsrat. 

Lisa Totzauer als Zünglein an der Waage? 

Lisa Totzauer © ORF Lisa Totzauer
Und dann ist da auch noch Lisa Totzauer, die sich ebenfalls um den Posten der ORF-Chefin bewirbt. Sie ist derzeit Channel Managerin von ORF 1 und hatte als solche keine leichte Zeit. ORF 1 ist das Sorgenkind des ORF. Mit seinem auf ein junges Publikum ausgerichteten Programm kam der Sender in den vergangenen Jahren ziemlich schnell und sehr stark unter die Räder. Auch Totzauer hat den Quotenverfall nicht stoppen können, doch sie hat einiges versucht, allen voran am Vorabend und im Bereich der Information. 

Anders als beim ZDF in Deutschland, ist es beim ORF übrigens kein großes Thema, dass es mit Lisa Totzauer auch eine Frau gibt, die ORF-Chefin werden will. Zwischen 2002 und 2006 ist der ORF mit Monika Lindner schon einmal von einer Frau geleitet worden - der Druck, dass nun endlich mal eine Frau an die Spitze des Senders müsste, ist also weniger groß. An dieser Stelle wirkt der ORF weniger anachronistisch als das ZDF oder so manche ARD-Anstalt in der Vergangenheit. Auch Totzauer sagt stets, dass sie sich keinem politischer Lager zugehörig fühlt. Dennoch gilt auch sie als bürgerliche Kandidatin - und das könnte sich als entscheidender Vorteil für Alexander Wrabetz erweisen. 

Kann sich der ÖVP-Freundeskreis im Stiftungsrat nämlich nicht auf Weißmann oder Totzauer einigen, könnte es zu einem Split der Stimmen kommen. Und weil mit einfacher Mehrheit gewählt wird, hätte der Amtsinhaber plötzlich doch wieder gute Chancen auf weitere fünf Jahre in seinem Job. Dazu müsste Wrabetz nur wieder ein buntes Bündnis aus den übrigens Fraktionen im Stiftungsrat bilden. Dass er das kann, hat er in den vergangenen Jahren mehrfach unter Beweis gestellt. Allerdings hat sich mit Thomas Prantner auch der stellvertretende Technik-Direktor für den ORF-Generaldirektorenposten beworben. Ihm werden zwar keine Chancen eingeräumt, Prantner gilt aber als FPÖ-nah. Und die Stimmen dieser Stiftungsräte bräuchte Wrabetz wohl ziemlich sicher, um am Dienstag gewählt zu werden. Sicher ist die Wiederwahl des bisherigen ORF-Chefs also keinesfalls. Im Gegenteil: So sehr wie im August 2021 hat der Stuhl von Alexander Wrabetz noch nie gewackelt. 

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