Baden-Baden ist ein ambivalentes Städtchen. Wie goldener Mehltau liegt ein musealer Glanz überm Kurort, der sich so verzweifelt gegen Leerstand, Vergreisung und Systemgastronomie stemmt, dass man die tapfere Oos darin glatt übersehen könnte. Statt frei zu fließen zu dürfen, weist sie ein herzloses Betonbett in ihre Schranken und erinnert damit ans Gesellschaftsereignis am Schwarzwaldrand. Als überm porösen Putz prächtiger Fassaden längst die Streamingstürme tobten, als Mediatheken druckbetankt und selbst Privatsenderportale gehaltvoll wurden, blieb das Fernsehfilmfestival im neunzigminütigen Korsett gefangen.

Filme statt Serien, Arte statt Netflix, Formatzwänge statt Vielfalt, Tradition statt Innovation – schick war’s schon immer hier, aus fiktionaler Sicht jedoch ungefähr so modern wie das klassizistische Kurhaus. Bis es dort neun Uhr schlägt und die Nachfolgerin der Baden-Badener Tage des Fernsehspiels das 21. Jahrhundert erreicht. Im pompösen Bénazetsaal verkündet Lavinia Wilson die Entscheidung ihrer Jury, and the winner is: nein, kein Fernsehspiel wie in den 57 Jahren zuvor, sondern die Fortsetzung des Sky-Achtteilers „Der Pass“.

Jubel, Trubel und so lauter Premierenapplaus fürs opulente Krimi-Drama von Cyrill Boss und Philipp Stennert, als wolle das festlich dekorierte Publikum inklusive Oberbürgermeister die eingepferchte Oos gleich mit von ihrer Fessel befreien. Okay, weil Staffel 2 der alten wenig Neues hinzufügt und Wettbewerber wie Jan Georg Schüttes Impro-Perle „Das Begräbnis“ und Julia von Heinz‘ Experimental-Historytainment „Eldorado KaDeWe“ dem zweiten Teil vom Festivaltitel TeleVisionale eigentlich näherkamen, ist das vielleicht nicht die beste Wahl. Aber es ist eben die erste.

Die allererste dagegen auf einer Bühne im Zentrum des Raums, umringt von Zuschauern, demokratisch also wie das gesamte Festival: der MFG-Star genannte Nachwuchspreis der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg, den Geschäftsführer Carl Bergengrün an Marina Prados und Paula Knüpling für ihr autonom, also ohne Senderhilfe und Fördermittel produzierte Mockumentary „Ladybitch“ über sexistische Theaterstrukturen verleiht. „Es war schwierig, eine Entscheidung zu fällen“, sagt Einzeljuror Sönke Wortmann zu seiner Entscheidung und fügt grinsend „mit mir selbst“ hinzu.

Ehrenpreis für Aylin Tezel

Ohne Festivalerfinder Hans Abich im Titel, dessen jüngst enttarnte NS-Vergangenheit zur Umbenennung führte, nimmt Aylin Tezel danach den Ehrenpreis entgegen, und dass die Schauspielerin barfuß kommt, taugt eigentlich ganz gut als Überleitung zum Serienpreis der Studierenden als Vorspiel der Premiere preisgekrönter Fortsetzungserzählungen. Von wegen Vorspiel jedoch: Titelträgerin Michal Aviram, israelische Autorin von Philipp Kadelbachs internationalem Terrordrama „Munich Games“, nennt den Zuspruch der Kreativen von morgen mit Trophäe in der Hand „herzerwärmend“.

Nachdem die Vergabe an „Der Pass“-Darstellerin Julia Jentsch sodann auch deshalb geradezu herzerhitzend war, weil sie sich in ihrer Dankesrede „überwältigt“ von öffentlichen Jury-Sitzungen und familiärer Gesprächskultur zeigte, kochen die Gefühle kurz mal runter. Es geht um Soundtracks, die SWR-Laudator Martin Roth zwar als „Seele des Films“ bezeichnet, aber seien wir ehrlich: oft kommt die erst zur Entfaltung, wenn sie nicht weiter auffällt. Das aber ist beim Sieger Fabian Zeidler schiefgegangen. Seine Komposition hat das Kleine Fernsehspiel „The Ordinaries“ so virtuos zum Musical aufgeblasen, dass die Frequenzverdoppelung auf jährliche Verleihung des Rolf-Hans Müller Nachwuchspreises ein Segen ist.

Doch interessanterweise fehlt die beim 3sat-Publikumspreisgewinner, dem Koordinatorin Natalie Müller-Elmau einen Dank an die FIFA vorausgehen lässt, weil deren Menschenverachtung alle Einschaltquoten der zehn Wettbewerbsbeiträge auf Rekordhöhen gesteigert habe. Nachdem Matti Geschonnecks musikfreie Inszenierung der „Wannseekonferenz“ also vom Zuschauer gewürdigt wurde, geht es ans frühere Festivalkerngeschäft: das Fernsehspiel. Singular. Denn ebenso interessanterweise haben beide Jurys denselben Film ausgezeichnet: Marie Kreutzers kriminologische Dorfmilieustudie „Vier“ – wenngleich mit verschiedenen Adressaten.

Während das professionelle Schiedsgericht um Dominik Graf das Werk als Ganzes bedenken, übergeben die Studierenden das gravierte Plexiglas-Quadrat an zwei Redakteure. Begründung: „Wir haben Angst vor mangelndem Vertrauen uns und dem Publikum gegenüber.“ Sabine Weber (ORF) und Daniel Blum (ZDF) aber hätten dieses Vertrauen über alle Konventionen hinweg gehabt und damit einen Film wie den besten von Baden-Baden ermöglicht. Erst lautes Schweigen, dann helle Begeisterung – die durch zwei Sonderpreise noch steigt: Manuel Rubey und Laurence Rupp für ihr schwules Paar in „Vier“, Meret Becker und Bella Dayne im „Tatort: Das Mädchen, das allein nach Haus‘ geht“.

Der tosende Applaus ist dann aber das Maximum Badenser Euphorie, die – trotz des eigens angereisten DJ Adam Bousdoukos mit Kumpel Fatih Akin im Schlepptau – auch auf der anschließenden Abschlussparty eher langsam Fahrt aufnimmt. „Mein Backup“, sagt der national bekannte Schauspieler über den weltberühmten Regisseur. Und Meret Becker dankt per Videobotschaft „allen Frauen, aber besonders denen im Iran“. Viel Bewegung auf der TeleVisionale, die weitere Veränderung benötigt, wie Kreativchef Urs Spörri sagt. Nach der ersten Ausgabe im neuen Gewand aber quetscht sich zumindest die Ooas noch immer durchs Betonbett. Veränderung braucht Zeit.

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