Für eine Fernsehmesse wie die MIPCOM, die am Montag im südfranzösischen Cannes startet, sind risikoaverse Zeiten ideal: Wenn Sender und Plattformen auf Nummer sicher gehen wollen, gelten Erfolge im Ausland nochmal mehr als Eigenentwicklungen deutscher Kreativer. Leider mag man ergänzen, immerhin: Einige Ausnahmen bestätigen diese Regel. „Es wäre vermutlich einfacher eine deutsche Entwicklung auf eigene Kosten in Rumänien zur Ausstrahlung zu bringen, um dem deutschen Sender dann fantastische Marktanteile dort präsentieren zu können“, ulkt eine selten um klare Sprache verlegene Fernsehproduzentin gerne. Was für einheimische Kreative bitter ist, sind gute Zeiten für einen Marktplatz wie die MIPCOM.

Nach dem im vergangenen Jahr nochmal groß inszenierten Neustart der weltgrößten TV-Messe nach der Corona-Pandemie (der eigentlich schon im Oktober 2021 erfolgte), bei dem sich eindrucksvoll die Relevanz der sonst oft kritisierten Messe bewies, ist die Stimmung beim Messebetreiber RX in diesem Jahr bestens. Die Gründe? Ein schwächelnder Werbemarkt in einigen Territorien, ein durch den Streik der Schauspielerinnen und Schauspieler immer noch lahmgelegtes Hollywood, die Streamer zunehmend auch auf der Suche nach günstigeren non-fiktionalen Programmen und dann alle zusammen auf der Jagd nach der neuen Königskategorie: der Dokumentation bzw. Doku-Serie. 

Die offenen Fragen sind also zahlreich, alle getrieben von Veränderungen bei denen anders als in den Vorjahren eben nicht mehr so klar ist, wohin eigentlich die Reise geht. Einfach war es in den letzten Jahren die Geschichte vom Boom der Streamer zu erzählen. Vom goldenen Zeitalter der Serie. Manches Sales-Team wird das auch weiterhin strapazieren, doch die Wahrheit ist: In Menge, Budget und Varianz haben Netflix und Amazon als größte Player die Geldvergabe per Gießkanne längst beendet. Mainstream ist gefragt, passend zum fast überall angedachten oder schon umgesetzten Einstieg in die Werbefinanzierung. Reichweite rules.

Nicht zu spitz darf es sein, zumindest im Fiktionalen, wenn das Spitze meist teuer bedeutet. Im Dokumentarischen wiederum zählt es, gerade jene spitzen - ergo idealerweise noch nie erzählten - Geschichten oder zumindest neue Zugänge zu bekannten Geschichten zu finden. Und beim trotz „The Traitors“ weiter vom Dating dominierten Reality-Genre ist, falls Textilbekleidung überhaupt erwünscht, Spitze auch nicht verkehrt. Weniger Experimente, mehr von dem was es gibt, nur eben ein ganz klein bisschen anders. Sie ist nicht furchtbar neu diese Einstellung. Back to Mainstream ist der Trend des Jahres, wem kann man es angesichts der wirtschaftlichen Herausforderungen auch verübeln.

Selbst Disney, das in diesen Tagen seinen 100. Geburtstag feiert, sucht unter dem zurückgekehrten Bob Iger gerade nach den passenden Geschäftsmodellen fürs Content-Geschäft. Auch Warner Bros. Discovery hat mit Max bereits einige Strategie-Schwenks hinter sich und kann bis heute keine Antwort darauf geben, ob und wie man als große Nummer aus Hollywood eigentlich in puncto Streaming im deutschen Markt agieren will. Eine Unsicherheit, die schon Führungskräfte entnervt vertrieb. Ob der Chef des internationalen Geschäfts von WBD, Gerhard Zeiler, am Montag in Cannes zusammen mit seiner EMEA-Kollegin Leah Hooper Rosa eine Perspektive geben kann bzw. will? Um 11.15 Uhr könnte man es sich im Grand Auditorium anhören.

Sehen wir es als positives Signal! Das deutsche Privatfernsehen mit den aktuellen Herausforderungen bei der Werbefinanzierung ist also nicht allein auf der Suche nach Antworten. Niemand, auch nicht die Streamer, reisen gerade mit besonders viel Rückenwind nach Cannes. Dass Netflix, Amazon und auch Disney+ im Werbemarkt mitmischen wollen, kommt nicht von ungefähr. Für die Sender ist es übrigens ein gutes Signal: Zehn Jahre lang entwöhnte das Streaming eine ganze Generation von Werbung und führte zur oberflächlichen Unterscheidung zwischen Fernsehen mit Werbung und Streaming ohne. Die Trennung weicht auf; das so oft von deutschen Marktteilnehmern gewünschte Level Playing Field entsteht, weil mancher Streamer mehr auf Wirtschaftlichkeit achtet. 

Wie lange kann beispielsweise Paramount+ als Streamer der zweiten Generation noch aus allen Rohren feuern? Antworten könnte es in Cannes von Bob Bakish, CEO von Paramount Global, am Dienstag um 17 Uhr im Grand Auditorium geben. Zu den weiteren Highlights im oftmals etwas übersehenen Kongressprogramm der MIPCOM gehört auch in diesem Jahr wieder „Fresh TV Formats“ von und mit TheWit-Chefin Virginia Mouseler am Montag um 13 Uhr - und der Schwesterveranstaltung am Mittwochmittag, wenn es um 13 Uhr um „Fresh TV Fiction“ geht. Der anhaltende Boom des fiktionalen Formatgeschäfts - ein weiterer Beleg für den Wunsch nach Risikominimierung, den sich immer mehr Produktionsfirmen und Distributoren zu Nutze machen.

Einige neue Serienprojekte gibt es auch zu sehen, ganz ohne Serienfestival Canneseries: Mediawan zeigt schon am Sonntagabend ab 18 Uhr „Zorro“, Fremantle am Montagabend zur gleichen Zeit „Alice & Jack“ und am frühen Dienstagabend zeigen Beta Film und ZDF Studios als Weltpremiere die neue und in Deutschland beim ZDF eingeplante Serie „Concordia“ von Frank Doeldger („Der Schwarm“, „Game of Thrones“). Diese drei Screenings sind übrigens offen für akkreditierten Besucherinnen und Besucher der MIPCOM, ebenso wie am Dienstagnachmittag auch die Diversify TV Awards und am MIttwochabend - für die, die nicht schon längst abgereist sind - die TBI Content Innovation Awards. Und die deutsche Branche trifft sich, auf Einladung, einmal mehr schon am Montagabend zum German MIP Cocktail.

Die MIPCOM 2023, sie ist eine Flucht nach vorne und das - anders als zuletzt - von nahezu allen Beteiligten. Oberwasser hat hier niemand, auch wenn sich manche gerne so inszenieren. Die Fragen der Anreisenden sind vielfältig, die Antworten sicher nicht alle in diesen Tagen in Cannes zu finden. Dafür genügend gutes Essen, guter Wein und zahlreiche Begegnungen bei denen es zur Abweschlung mal erfrischend ist, dass alle gemeinsam rätseln wohin die Reise geht. Selten war dieser ganze Zirkus aufregender als heute.