"Es ist nicht übertrieben, von einem neuen Zeitalter zu sprechen, uns gelingt tatsächlich damit ein großer Schritt nach vorn", sagt Willibald Müller, der seit Anfang des Jahres Geschäftsführer der AGF Videoforschung ist. So nennt sich die bisherige Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung, um schon im Namen deutlich zu machen: Es geht längst nicht mehr nur ums klassische Fernsehen. Wenn man bislang über die Reichweite von Fernsehinhalten sprach, dann musste man das immer mit einem Sternchen versehen: Die AGF, die in Deutschland die Quotenermittlung beauftragt und weiterentwickelt, konnte bislang über das GfK-Panel nur die Nutzung am klassischen Fernseher ermitteln. Zeitversetzte Nutzung wird zwar erfasst, allerdings nur, wenn sie auf klassischem Weg, also zum Beispiel mit Festplattenrekorder geschieht. Wer sich eine Sendung in der Mediathek anschaut, fiel bislang hingegen durchs Raster.

Zwar liegen den Sender natürlich intern schon immer Abrufzahlen vor und seit 2014 erhebt und veröffentlicht auch die AGF bereits für mehrere große Sender Hitlisten mit den meistabgerufenen Sendungen aus den Mediatheken - doch diese Zahlen waren mit den Fernsehquoten bislang überhaupt nicht vergleichbar. Die Zuschauerzahl, die man gemeinhin in der Öffentlichkeit kennt, ist die "durchschnittliche Sehbeteiligung". Vereinfacht gesagt: Sieht man nur die halbe Sendung, ist man dann auch nur ein halber Zuschauer. Bei den Mediatheken wurde hingegen eine Sichtung gezählt, auch wenn man das Video nach wenigen Momenten wieder abbrach. Und während die Werbewirtschaft aus dem Fernsehen gewohnt ist, genau aufschlüsseln zu können, welche Altersgruppe mit welchem Einkommen und welchem Bildungsstand da gerade vor dem Fernseher sitzen soll, geben die nackten Abrufzahlen der Streams Ähnliches erstmal nicht preis.

Das ändert sich jetzt, denn zusätzlich zur tatsächlichen Zählung der Abrufe hat die AGF gemeinsam mit Nielsen ein Panel aufgebaut, dass diese Zahlen mit der gleichen Tiefe anreichert, wie man das aus dem TV gewohnt ist. Zudem hat man es nun geschafft, die Paneldaten zu fusionieren, sodass sich nun feststellen lassen soll, wenn Zuschauer sowohl via TV und Stream geschaut haben oder ob sie nur im TV oder nur im Web zugesehen haben. AGF-Chef Willibald Müller schwärmt: "Es wurde so lange über konvergente Gesamtreichweiten diskutiert, bislang beschränkten sich aber alle Versuche auf Hilfskonstruktionen. Nun aber können wir TV- und Online-Nutzung mit einem gemeinsamen maßgeschneiderten Analyse-Tool auswerten und die Reichweiten kumulieren - sehr flexibel und mit en Funktionalitäten, die wir aus der TV-Welt kennen. Davon haben viele seit Jahren geträumt und nun ist es soweit."

Die Öffentlichkeit - oder auch die Fachpresse - hat auf diese Daten allerdings erstmal keinen Zugriff. Hier überlege man noch, in welcher Form man einige Daten veröffentlichen könne. Sendern oder Mediaagenturen stehen nun hingegen zwei neue Tools zur Verfügung. Müller erklärt deren Unterschied so: "WebCross 2.0 bietet einen einfacheren, intuitiven Zugang, mit dem sich auch neue Anwender leicht zurechtfinden und auf einer grafisch unterstützten Oberfläche schnell erste Zielgruppenanalysen durchführen können. Videoscope 1.0 ist ein Experten-Tool, das eher für den fortgeschrittenen Anwender sinnvoll ist, der sich in der Welt von TV Scope schon sehr gut auskennt. Aufgrund der umfangreichen Funktionalitäten ist es das komplexere Tool, das einer Schulung und Einführung bedarf." Nach Abschluss der Preview-Phase, während der man Feedback aus dem Markt einholen und Erfahrungen sammeln will, soll Videoscope dann das bisherige System komplett ablösen und TV Scope abgeschaltet werden. Dies solle "im Einvernehmen mit allen Marktbeteiligten ohne zeitlichen Druck" geschehen, so Willibald Müller im Gespräch mit DWDL.de. "Aus jetziger Sicht könnten wir dies im zweiten Halbjahr angehen."

"Wir wissen, dass das erst der Anfang ist."
Willibald Müller, Geschäftsführer AGF Videoforschung

Nicht nur bei der AGF spürt man die Euphorie, dass man nach jahrelanger Vorbereitung nun diesen Schritt gehen kann, auch von den Mediaagenturen kommt Lob. "Die ersten regelmäßigen Reportings aus dem Videostreaming-Projekt der AGF Videoforschung sind ein wichtiger Schritt in Richtung Marktstandard, der von der Werbewirtschaft so dringend gefordert wird", erklärt Klaus Peter Scharpf, Managing Director Business Planning bei Mindshare. Die AGF setze mit ihren Tools "Maßstäbe, die den zunehmend komplexen Erfordernissen einer konvergenten Kampagnenplanung entsprechen".

Doch Willibald Müller räumt auch ein: "Wir wissen, dass das erst der Anfang ist." Die Dauer von 40 Tagen, die es bislang braucht, um die ohnehin nur monatlich erstellten Reportings zu produizieren, soll im Lauf der Zeit deutlich beschleunigt werden. Noch viel wichtiger aber: Bislang geht überhaupt nur die Mediatheken-Nutzung am klassischen Computer in die Messung ein. Auch das soll sich bald ändern: "Im Moment erfassen wir die Desktop-Nutzung und sammeln damit wichtige Erfahrungen. Parallel bereiten wir die Erfassung der mobilen Nutzung an Smartphones und Tablets vor. Der Aufbau des Mobile-Panels mit 5.000 Teilnehmern ist schon weit fortgeschritten." Bis man die Daten daraus in die Gesamtreichweiten einfließen lassen kann, wird es aber in jedem Fall bis ins Jahr 2018 dauern. Dann will man auch die Smart-TV-Nutzung erfassen können.

Schon allein weil so viele Nutzungsmöglichkeiten noch immer nicht gemessen werden, sollte man beim Blick auf die konvergenten Gesamtreichweiten nun keine Revolution erwarten. Schon als die AGF im vergangenen Jahr erstmals erste Daten zur audiovisuellen Gesamtreichweite vorlegte, hatte sie eine fast schon verschwindend geringe Online-Reichweite im Vergleich zu den TV-Reichweiten ermittelt (siehe "AGF stellt fest: Das Internet? Völlig überbewertet!"). Das dürfte auch diesmal so aussehen: "Im Verhältnis zu den TV-Reichweiten fallen die Streaming-Reichweiten relativ gering aus. Wir befinden uns noch immer in einer frühen Phase der Transformation der Nutzung - eine viel frühere als das oft öffentlichkeitswirksam kolportiert wird", so der AGF-Chef. "Doch auch wenn diese Zahlen im Moment noch klein erscheinen: Entscheidend ist, dass wir alle davon ausgehen, dass diese Nutzung künftig steigen wird. Deshalb bauen wir jetzt schon belastbare Systeme auf, um dann am Start bereit zu stehen, wenn der Anteil signifikante Größen erreicht."

Nicht nur aufgrund der fehlenden Messung etwa der mobilen Nutzung hat die AGF unterdessen noch einiges an Arbeit vor sich, auch die schon vor fast zwei Jahren angekündigte Zusammenarbeit mit Google respektive YouTube ist noch eine Baustelle. Künftig sollen sich die Reichweiten auf YouTube mit jenen der Sender vergleichen lassen. Kein einfaches Unterfangen, doch Willibald Müller gibt sich optimistisch: "Es ist methodisch anspruchsvoll, aber es gab in den letzten Wochen mehrere Treffen mit den Verantwortlichen bei Google und wir haben ordentlich Bewegung in das Projekt gebracht. Ich bin sehr zufrieden mit den Fortschritten, die wir derzeit machen." Weitere Anbieter haben laut AGF ihr Interesse bekundet, ebenfalls an der Reichweitenmessung teilzunehmen.

Und dann ist da ja auch noch die Messung der klassischen TV-Quoten, die in den letzten Jahren zunehmend in die Kritik geriet. 5.000 Haushalte mit rund 10.500 Personen werden dabei beobachtet, um damit die Fernsehnutzung von rund 75 Millionen Menschen abzubilden. In einer fragmentierten TV-Welt, in der Sender häufig mit Sendungen nur wenige Zehntausend Zuschauer erreichen, stößt man damit an Grenzen. Dass Handlungsbedarf besteht, räumt auch Willibald Müller ein. "Unser Ziel ist es, die Messung der Zuschauerzahlen bei kleineren Sendern kontinuierlich zu verbessern. Das ist natürlich auch ein Anliegen unserer neuen Gesellschafter." Seit kurzem sind neben ARD, ZDF, ProSiebenSat.1 und der Mediengruppe RTL eben auch WeltN24, Discovery, Viacom, Sky und Tele 5 Gesellschafter der AGF - und die werden auf genau solche Verbesserungen hinwirken.

Ganz einfach wird das allerdings nicht: "Methodisch wollen wir dies auf mehreren Ebenen lösen, denn eine deutliche Vergrößerung des Panels ist kaum finanzierbar. Wir evaluieren stattdessen, wie wir mit Zensus-Daten oder Daten aus dem Bereich gemessener Nutzung die Panel-Daten anreichern können" - ein Hybrid-Modell also, wie man es ja auch im Streaming-Bereich einsetzt. Ganz unwidersprochen will Willibald Müller die Kritik an der bisherigen Quotenerhebung dann aber doch nicht stehen lassen: "Auch das jetzige Panel funktioniert besser als es zuweilen kolportiert wird - insbesondere wenn man nicht einzelne Sendungen oder Tage betrachtet, sondern einen Timeslot über einen längeren Zeitraum. Dann sind die Zahlen für die kleineren Sender sehr belastbar.“