Bei der Übertragung des „#FinalDraw“ vorigen Freitag im Ersten, also der Gruppenauslosung für die Fußball-WM in Katar, war jener Mann schon nicht mehr involviert, der in den vergangenen 19 Jahren praktisch alle Fußball-Events für die ARD verantwortet hat. Steffen Simon saß stattdessen daheim in Köln und verfolgte das von seinen jüngsten Personalverpflichtungen moderierte „Sportschau“-Extra vom Sofa aus wie ein ganz normaler Zuschauer. Der Noch-Chef von Esther Sedlaczek und Bastian Schweinsteiger hatte sich zuvor aus der Schusslinie genommen. Nicht, dass da ein Interessenkonflikt aufkommt! Bald spielt er schließlich auf der anderen Seite mit, auf der Seite der „Mannschaft“.

Am 1. Mai wechselt Steffen Simon bekanntlich zum DFB als neuer Mediendirektor. „Fußball-Hammer“, schlagzeilte die „BILD“-Zeitung in ihrer hammermäßigen Art, als die Personalie Ende März bekannt wurde, und traf damit, hö hö hö, den Nagel auf den Kopf. Mit diesem spektakulären Seitenwechsel hatte nun wirklich niemand gerechnet.

Vorschusslorbeeren verteilte die stellvertretende DFB-Generalsekretärin („An seiner Kompetenz gibt es keinen Zweifel.“). Gratulation kam von höchster WDR-Stelle. Und genau das, das „hervorragende Gespür für die öffentliche Wahrnehmung und Meinungsbildung“, das ihm Intendant Tom Buhrow in seinem Abschiedslob attestierte, wird Steffen Simon für seine neue Aufgabe sehr brauchen.

Steffen Simon © WDR/Annika Fußwinkel
Der Ruf der deutschen Fußballelf ist, gelinde gesagt, nicht der beste. Sie wird als emotionsloses, unnahbares und auf Turnierebene zuletzt glückloses Konstrukt wahrgenommen. Selbst Steffen Simon urteilte in seiner Rolle als langjähriger ARD-Kommentator und WDR-Sportchef im Vorjahr hier auf DWDL.de, Jogis Jungs hätten unser Land seit dem Viertelfinalsieg gegen Italien bei der Euro 2016 „in keinem Moment mehr euphorisiert, im Gegenteil“.

Und jetzt soll er der Nationalmannschaft quasi einen Euphorie-Kick mit verpassen? Ausgerechnet er, der bei Pokal- und Länderspielen so viel negative Emotion aushalten musste wie kaum ein anderer Mann in der Kommentatorenkabine? Wie will er das anstellen?

Nun, das bleibt vorerst sein Geheimnis. Noch ist er beim WDR unter Vertrag. Gleich zu Beginn unseres Gesprächs bittet Steffen Simon deshalb um Verständnis, dass er sich dazu erst ab 1.5. äußere. Was ihn zum Jobwechsel geritten hat, darüber spricht er indes gern.

„2021 war das herausforderndste Jahr, das ich je hatte“, beginnt er zu erklären. Weil der WDR mehr und mehr zur Sportsendezentrale für die gesamte ARD werde, habe es so viele Projekte wie nie zuvor gegeben, die bewältigt werden mussten. Mit dem Aufzählen hört er gar nicht mehr auf: Ein Supersportjahr war das mit den Finals, dem CHIO und der nachgeholten EURO 2020 inklusive eines allein in der Kölner Innenstadt noch nie da gewesenen technischen Riesenproduktionsgewitters, dazu die Verantwortung für die Bundesligaschlusskonferenz auf 25 Hörfunkwellen und Verwertung der erstmals erworbenen Online-Rechte. Der Launch des Podcasts „Sport Inside“ und der Doku-Serie „Generation F“ für die ARD-Mediathek, die 50-Jahr-Feier zum Tor des Monats und und und.

Am Ende des Jahres habe er dann „so was wie eine Verabredung mit sich selbst“ gehabt, fährt Simon fort: Du wirst 57. Deine letzten zehn Berufsjahre stehen an. Du kannst diesen Erfolg konsolidieren und verwalten. Oder du kannst, wenn du Glück hast, jetzt noch mal was anderes machen. Alte, weiße Männer seien ja „etwas aus der Mode gekommen, aber ich hatte Glück“, lacht er und holt dann diesen unglaublichen „Hammer“ heraus: Ein Bekannter rief ihn an, der Kölner Karneval sucht einen neuen Geschäftsführer, hast du Interesse?

"Große Bereitschaft, mich zu verändern"

Nun sollte man wissen, dass Steffen Simon 1965 im Jecken-freien West-Berlin geboren wurde. Auch wenn ihn die ehemaligen ARD-Granden Günter Struve, Ulrich Deppendorf und Hagen Boßdorf in einer gemeinsamen Kraftanstrengung mit Jörg Schönenborn vor bald 20 Jahren vom RBB in Potsdam, wo er den Sport leitete, zum Hotspot des Frohsinns lotsten, um die Leitung der „Sportschau“ zu übernehmen – ein assimilierter Preuße im organisierten Fastelovend?

Nach eigener Aussage feiert Steffen Simon gern. Den Karneval hält er für eine „wunderbare kulturelle Einrichtung“, die Menschen zusammenführe. Zu Gesprächen kam es dennoch nie. Aber er merkte, dass in ihm „eine große Bereitschaft war, mich zu verändern“.

Und dann klingelte das Telefon.

Aus dem Gespräch mit einem DFB-Abgeordneten ergab sich ein vier Monate langer, für ihn „faszinierender Prozess“, dessen Systematik ihm in dieser Ausführlichkeit noch nicht bekannt war. Nach mehreren Interviews und Durchlaufen eines Assessment Centers konnten sowohl der Fußballbund als auch er überzeugt sagen: Das ist der neue Weg, für beide Seiten.

Aus dem Umstand, dass der Posten „Direktor der Direktion Öffentlichkeit und Fans“ des Deutschen Fußball-Bundes seit dem Sommer vakant war (Mirjam Berle hatte den Dienst nach kaum einem Jahr quittiert) soll man Steffen Simon zufolge an dessen Attraktivität nicht zweifeln: „Tatsächlich wurde die Stelle lange nicht besetzt, weil man auf die neue Führung des DFB warten wollte.“

Mit dem Quereinsteiger Bernd Neuendorf ist sie jetzt da. Eine „Herzensangelegenheit“, wie sein Vor-Vor-Vorgänger Harald Stenger einmal den Posten als Pressesprecher der Nationalmannschaft bezeichnete*, ist der Job für den Mediendirektor in spe gleichwohl nicht: „,Herzensangelegenheit‘ romantisiert die Sache so. Ich gehe mit einem sehr klaren Kopf und hohen Ansprüchen an mich selbst an diese Aufgabe. Ich möchte helfen, den Fußball in seiner Stärke zu erhalten, weil er über so viele Kluften und Grenzen hinweg Menschen zusammenbringt.“ Nicht zuletzt sei er ja selbst über den Fußball sozialisiert worden.

Sein Vater, Fan von Hertha BSC, nahm ihn früh mit ins Olympiastadion. Der Steppke wunderte sich zwar, warum in der Kurve alle immerzu meckerten. Fan wurde er trotzdem, Fan ist er geblieben. „Man wechselt seine Frau, aber nie den Fußballverein“, zitiert der in zweiter Ehe verheiratete fünffache Vater und zweifache Großvater „diesen furchtbaren Spruch“. Er wünschte, „es wäre anders, denn die Liebe zu Hertha ist mit sehr viel Schmerz verbunden“. (Deshalb bitte heute Abend beim Derby gegen die Union die Daumen drücken, Herrn Simon zuliebe!)

Auch seinen sportjournalistischen Einstieg hatte Herthas Begleiter recht früh. Er war 14, 15, als er unter dem damaligen RIAS-Unterhaltungschef Hans Rosenthal („Dalli Dalli“) das erste Mal bei Heimspielen quasi in einer frühen Form der Bundesligakonferenz „Tooor in Berlin!“ hinausbrüllen durfte. Vor allem das Kommentieren von Länder- und Pokalspielen wurde Jahre später zu seiner Profession – und zum Quell andauernder Kritik, die er auf dem Satirepfad zusätzlich befeuerte.

Beim TV-Kurzformat „Schnauze, Simon!“, das der WDR-Chef in der Saison 2013/14 moderierte, handelte es sich, je nach Sichtweise, um „zähe zehn Minuten“ respektive „viel Anarchie und Ausprobieren“, jedenfalls nichts, worüber sich Steffen Simon „im Nachhinein schämen würde“. Doch Fußball ist eine ernste Sache, und so war der Versuch, „den Fußball mit einer Mischung aus nicht ganz so ernstem Blick darzustellen“, nach 18 Folgen passé. Im Februar 2020, nach dem DFB Pokal Achtelfinale SC Verl gegen Union Berlin, ging Simon dann auch als Kommentator endgültig vom Platz.

Hatte ihn der Dauerbeschuss in den Social Media und der Presse (insbesondere der FAZ) zermürbt?

Seine Entscheidung, nicht mehr zu kommentieren, habe „ausschließlich“ etwas mit der zunehmenden Größe seiner Verantwortung als Manager zu tun gehabt, lautet Steffen Simons Antwort. 2003 fing er beim WDR mit 20, 30 Kolleginnen und Kollegen an. Zuletzt waren sie 250 und ein Viererleitungsteam ohne Zwischenhierarchie. „Das war schlichtweg nicht mehr möglich, nebenbei zu kommentieren.“ Außerdem stehe er auf dem Standpunkt: Alles hat seine Zeit. „Es hat etwas mit Generationenverantwortung zu tun, dass man seinen Platz frei macht für die Nächsten.“

 

"Unser ehrgeiziges Ziel ist, dass wir noch mehr Kommentatorinnen möchten."

 

All zu viele Fußballkommentatorinnen hat sein Freimachen indes nicht hervorgebracht. Mit Stefanie Baczyk und Christina Graf hat die ARD gerade mal zwei bei Bundesligaspielen und null, wenn die Nationalelf spielt. „Unser ehrgeiziges Ziel ist, dass wir noch mehr Kommentatorinnen möchten“, sagt der scheidende WDR-Sportchef, wohlwissend, dass sein Nachfolger darüber zu bestimmen hat. Fest steht noch nicht, wer es wird. Kommissarisch übernimmt Simons Stellvertreter Klaus Heinen, mit dem er seit 2003 eng zusammengearbeitet hat.

Steffen Simon © WDR/Annika Fußwinkel
Fragt man Steffen Simon nach den Höhepunkten in 19 WDR-Jahren, fragt er zurück: „Wie viel Zeit haben Sie? Es gab einige.“ Darunter falle auf jeden Fall: der Aufbau des crossmedialen Sportcampus. Aus der alten Fernsehredaktion, der Hörfunkredaktion und den Digital-Kollegen von Sportschau.de eine schlagkräftige Einheit zu formen, sei das Herausforderndste gewesen, was er je zu verantworten hatte. Heute könne er sagen: Es ist geglückt. „Alle sind aus ihren Silos herausgekommen. Wir sind die erfolgreichste Sport-Digitalmarke in Deutschland.“ Aber nicht nur darauf ist er stolz.

Die Sporthintergrundberichterstattung, die er mit der Gründung der ARD-Doping-Redaktion und des Hintergrundmagazins „Sport Inside“ forcierte, sei „publizistisch wertvoll“ und habe die ARD „zusätzlich auch ein Stückweit unabhängig gemacht vom Rechteerwerb“: „Sie ist unser USP und unterscheidet uns substanziell von vielen Sportredaktionen in Deutschland.“

Und weil das so ist, muss man Steffen Simon auch noch diese Frage stellen: Hat er da unbeabsichtigt ein Eigentor geschossen? Wird ihm als baldigem DFB-Mediendirektor womöglich schon bange vor der investigativen Schärfe der Ex-Kolleginnen und Ex-Kollegen im WDR?

„Nein, gar nicht“, sagt er, der sich selbst immer als „beobachtender Journalist“ verstand und trotz seines großen Netzwerks im Fußball „immer Distanz bewahrte“. Natürlich habe er sich auf dem Weg zu dieser beruflichen Veränderung hinterfragt: Kann man als Journalist, der investigativen Sportjournalismus gefördert hat, die Seiten wechseln? Er ist überzeugt: Ja, das geht, wenn man sein journalistisches Ethos nicht über Bord wirft.

„Ich werde künftig nicht Dinge als gut verkaufen, die nicht gut sind. Eine gute Öffentlichkeitsarbeit muss authentisch sein und auch einen kritischen Blick auf das eigene Unternehmen zulassen.“ Um seinen eigenen kritischen Blick, auch um seine Meinungsfreiheit in der künftigen DFB-Funktion macht er sich derweil keine Sorgen: „Wir leben auch im Sport in einer Demokratie. Es wird sicherlich erlaubt sein, eine Meinung zu haben, auch eine andere als der FIFA-Präsident.“

Ab dem 1. Mai wissen er und wir mehr.

Nach Frankfurt zur DFB-Zentrale wird Steffen Simon übrigens nicht umziehen. Vertragsgegenstand war eine Bahncard 100. Das Klapprad, was er zum Pendeln per ICE braucht, will er sich noch kaufen. Für die Dienstreise nach Katar im November wird er wohl eher das Flugzeug nehmen. Im Gepäck reist dann seine Hoffnung mit, „dass wir diesmal die Vorrunde überstehen“.

Ja, das wäre in der Tat schön so zum Auftakt in Steffen Simons neuem Job.

*Korrektur-Hinweis: Zunächst stand an dieser Stelle, dass Harald Stenger den Job des Mediendirektors als "Herzensangelegenheit" bezeichnete. Das bezog sich allerdings auf den Job als Pressesprecher der Nationalmannschaft.