Die allerbesten Geburtstagsglückwünsche gehen heute raus nach Polen. Genauer nach Zabrze bei Kattowitz, wo der Bestseller „Deutsches Haus“ als Serie für Disney+ verfilmt wird. Das Set haben sie in einen Adventstraum der 1960er Jahre verwandelt, wo an diesem Wochenende die Chefin der Produktion persönlich nach dem Rechten schaut. Und vielleicht, ach was, bestimmt nach dieser „Nahaufnahme“ von Sabine de Mardt wird jemand ein „Happy Birthday“ anstimmen. So was kann trösten. Denn nicht mehr 56 sein, wtf, das fällt ihr schwer.

Aber hey, was ist das schon im Vergleich zu den bald 130 Jahren seit Bestehen jenes französischen Filmkonzerns, unter dessen Dach Sabine de Mardt Gaumont Deutschland führt?

Seit es das Kino gibt, gibt es auch Gaumont. „Das fünfte Element“, „Léon der Profi“, „La Boum – Die Fete“ und „Ziemlich beste Freunde“, allesamt ziemlich beste Filme Made by Gaumont. Dieses älteste, familiengeführte Filmproduktionsunternehmen der Welt mit Hauptsitz bei Paris ist traditionell expansionslustig und verfügt seit 2018 auch über Büros in Köln und Berlin. Sabine de Mardt ist hier die erste Statthalterin der Franzosen.

Sie hat die deutsche Dependance hauptverantwortlich aufgebaut und leitet sie in dem Wissen, dass die Marke Gaumont dazu verpflichte, sie zu schützen und weiterzuentwickeln. Nicht als Ballast, sondern als Ehre empfinde sie es, für so ein traditionsreiches Haus arbeiten zu dürfen, bei dem es stark um Inhalte gehe, sagt die Deutschlandchefin ein paar Tage vor ihrer Abreise nach Polen. „Man spürt dort die Liebe zu dem, was wir tun.“

Als „verlängerter Vertriebsarm irgendeines internationalen Konzerns“ will sie sich gleichwohl nicht verstanden wissen. „Wir sind eine deutsche Firma, die in erster Linie deutsche Filme und Serien herstellt“, sagt de Mardt selbstbewusst. Gaumont Deutschland sei im Verbund, zu dem mittlerweile auch England und Italien gehören, autark. „Wir nutzen das internationale Netzwerk, wenn wir es brauchen. Ansonsten lässt man uns alle Freiheiten.“

Sabine de Mardt © Frank Dicks
Und wer ihr länger zuhört, erfährt: „Born with Cinema“, der Claim von Gaumont, er passt wie die Faust aufs Kameraauge auch zu ihr. Denn wie die Familie von Filmstar Léa Seydoux („James Bond“) besaß auch ihre Familie einmal ein Unternehmen, das mit Kino Geschäfte machte. Und zwar im Sauerland.

Kaum zu glauben, aber wahr: Halver, wo de Mardt aufwuchs, war einmal eine Kinometropole. In der in den Nachkriegsjahren kaum 13.000 Einwohner zählenden Stadt zwischen Breckerfeld, Lüdenscheid, Wipperfürth und Radevormwald gab es gleich drei Kinos, und alle wurden von Sabine de Mardts Mutter, Ilse Müller, betrieben. Sie war, wie man damals sagte, eine Dame von Welt, kleidete sich wie echte Filmstars jener Zeit und gab auch manch rauschende Party, ganz im Stil der großen Hollywood-Prominenz, wie Lokalhistoriker rekonstruierten.

Dieser Ilse Müller widmete Mitte der 1980er der später als Show-Regisseur tätige Utz Weber („Die Hit-Giganten“) ein Dokudrama mit dem sehr zutreffenden Knallertitel „Hollywood im Sauerland“. Und die Tochter der Porträtierten, da schließt sich der Kreis, sprang als Aufnahmeleiterin ein. „Das war extrem aufregend und abgesehen von ein paar Filmen in der Schulzeit und regen Kinobesuchen meine erste Berührung mit der Branche“, erinnert sich de Mardt.

Sie studierte zu dem Zeitpunkt Publizistik und Germanistik in Bochum und Aix-en-Provence, streckte aber parallel ihre Fühler Richtung Film und Fernsehen aus. Zunächst als Kamerafrau beim WDR, anschließend bei der Kölner Lichtblick. Beinahe wäre sie dort, mit 23, auch Gesellschafterin geworden. Nur hätte sie ihr Studium dafür aufgeben müssen, was sie nicht wollte.

Nächster Karriereschritt: Gemini Film. Eine große deutsch-französische Kinoproduktion stand an, und da Sabine de Mardts Französisch recht gut war und, wie die Franzosen behaupten, immer noch ist („Aber vielleicht sind sie nur höflich“), wurde sie Produktions- und später Herstellungsleiterin sowohl für Fernseh- als auch Kinofilme. Hauptsache Geschichten erzählen, egal in welchem Medium, das war ihr immer wichtig. 2009 stieg sie dann auf zur Geschäftsführerin des fusionierten Konstrukts Eyeworks Film Gemini und Eyeworks Fiction Cologne. 2015 holte sie Warner Bros ITVP als Fiction-Chefin an Bord, wo sie drei Jahre blieb. Der Rest ist Geschichte.

Nur wie noch mal kam sie zu Gaumont?

Als prominente französische Firma mit sehr guten internationalen Kontakten lag es Sabine de Mardt zufolge auf der Hand, dass sich Gaumont auch in Deutschland niederlässt. Zumal mit dem Serienhit „Narcos“ für Netflix in den USA die Erfahrung gemacht wurde, dass Expansion gut funktioniert. Also machte sich die Gaumont-Spitze, namentlich Vize-CEO Christophe Riandée, auf die Suche.

Über Empfehlung – ein Anwalt war zur Besetzung der Stelle engagiert – kam es zu einem ersten sehr guten Gespräch. Trotzdem sagte Sabine de Mardt Nein. Bei Warner begann nach dem Erfolg der Matthias-Schweighöfer-Serie „You are wanted“ gerade eine spannende Phase. Den Weltmarkt mit deutschen Serien erobern – was für aufregende Perspektiven schienen sich da aufzutun. Aber es kam dann doch anders. Als sich Riandée und de Mardt ein Jahr später in Frankreich zum Lunch trafen und er sie erneut fragte, sagte sie schließlich zu. Mit einer Bedingung:

Sabine de Mardt © Frank Dicks
Gaumont müsse in Deutschland schon ein bisschen größer herauskommen, sagte sie. Eine Mini-Struktur wäre strategisch schwach, da die Entwicklung der Firma zu lange dauern würde: „Wir brauchen Wumms und eine langfristige Perspektive.“ Auf der französischen Seite sah man das genauso. Sie vereinbarten Eckpunkte, und dann legte die Filialleiterin mit ihrem Team, zu dessen engstem Führungskreis Rainer Marquass und Andreas Bareiss gehören, unmittelbar los. Von Null auf 180. Das war im doppelten Sinn barbarisch.

Die Verfilmung der Varusschlacht im Jahr 9 nach Christus als Netflix-Serie sollte das Gesellenstück der jungen Firma werden. Weil es noch keine Büroräume gab, traf man sich zuerst in de Mardts Küche. Abenteuerlich war das in ihrer Erinnerung, und mit Bedacht eine neue Firma aufzubauen und zugleich nicht vom Volumen überrollt zu werden eine Herausforderung. „Aber ich glaube, es ist uns ganz gut gelungen“, untertreibt de Mardt keck.

„Barbaren“ wurde ein Welthit. Hier auf DWDL.de haben wir die Produzentin 2020 deshalb zur „Kulturbotschafterin mit Streaming-Rekord“ ernannt. Die zweite Staffel ist seit diesem Oktober auf Netflix verfügbar. Ob es eine dritte geben wird?

Die Entscheidung steht noch aus. Netflix wähle wie alle Streamer inzwischen sehr viel sorgfältiger aus, sagt die Produzentin. In ihrem Satz „es geht nicht mehr so schnell wie früher“ hört man Bedauern heraus. Weil die Analyse des Zuschauerverhaltens immer differenzierter werde und jetzt viel genauere Daten vorlägen, welche Show wo und wie erfolgreich ist, passe Netflix Programme und Budgets entsprechend an. Die Rezession allgemein auf den Märkten trübe die anfänglich euphorische Stimmung im Streaming ein. Ja, die Goldgräberzeit sei vorbei, das sehe sie genauso.

Aber Gaumont hat ja noch andere Partner außer Netflix.

Zurück nach Polen, zurück zum „Deutschen Haus“. Die Romanvorlage stammt von Annette Hess („Ku’damm“, ZDF), die zugleich Showrunnerin der hochkarätig besetzten Miniserie ist. Die Story führt über die Hauptfigur Eva in die Zeit des deutschen Wirtschaftswunders. Liebe, Freude, Heiterkeit, doch dann wird die Dolmetscherin für Polnisch im ersten Ausschwitzprozess plötzlich radikal mit dieser verschwiegenen Vergangenheit konfrontiert.

Wie schon bei „Barbaren“ knöpft sich Sabine de Mardt auch hier ein deutsches Geschichtskapitel vor, um es zu entmystifizieren, wohlwissend, dass sich Themen zum 2. Weltkrieg auf dem deutschen Markt „per se nicht so leicht verkaufen“. Nicht schon wieder Nazis, höre man oft, was auch an den hohen Budgets für historische Produktionen liege. Dennoch, findet die Geschichtsaufarbeiterin, gebe es viele Geschichten, die noch nicht erzählt wurden. Die anhaltende Aufarbeitung insbesondere des Holocaust, der systematischen, staatlich organisierten Verfolgung und Ermordung von sechs Millionen Juden in einer Dimension des Grauens, die es weder vorher noch nachher in der Weltgeschichte gegeben habe, sei überaus wichtig. „Never forget!“, mahnt de Mardt.

Sabine de Mardt, Annette Hess © Gaumont / Krzysztof Wiktor Sabine de Mardt mit Annette Hess am Set von "Deutsches Haus" in Polen - wo sie heute auch ihren Geburtstag verbringt.

Es ist ein Stoff, „der natürlich auch gut zu den Öffentlich-Rechtlichen gepasst hätte“. Aber das „richtige Zuhause“ fand die Produzentin diesmal bei Disney+. Ein Streamer, der von Beginn an global „ausstrahlt“, werde Hess‘ internationalem Bestseller am besten gerecht. Abgesehen davon wusste die Produzentin, die sich zum Beispiel in der Produzentenallianz auch medienpolitisch engagiert: „Disney hat die Kraft, unser Projekt mit einem Federstrich zu finanzieren. Dadurch konnten wir sehr schnell sein.“

Wann das Ergebnis auf Disney+ zu sehen sein wird, steht noch nicht fest. Aber natürlich hat Gaumont Deutschland auch noch andere Serieneisen im Streamingfeuer. „Anywhere“ von Jana Burbach zum Beispiel entsteht gerade für Paramount+, das am 8. Dezember in Deutschland startet und auf das sich Sabine de Mardt sehr freut.

Bei der Vorstellung dieses neuen Players am Vortag unseres Gesprächs fand sie besonders interessant, welche kreativen Vertriebswege zur Etablierung von P+ eingeschlagen werden. In den USA kooperiert Paramount mit dem Einzelhandelsriesen Walmart. Streaming mit anderen Angeboten zu „bundeln“ hält die Gaumont-Geschäftsführerin für ein Zukunftsmodell auch hierzulande. Was allerdings immer gebraucht werde: Programm. „Content ist eben King.“

Und den produziert die „Boutique“ Gaumont Deutschland – der Vollständigkeit halber sei das hier noch erwähnt – auch für Sky (den Dart-Irrwitz „Die Wespe“) oder fürs ZDF (die Tsunami-Katastrophe „Was zählt“ in sechs Teilen). Es sind horizontale Serien, die es entgegen de Mardts Prognose von 2016 gar nicht mehr selten gibt.

„Das freut uns alle sehr, weil man einfach viel tiefer und differenzierter in die Charaktere hineinsteigen kann“, lacht sie und schränkt den Optimismus gleich etwas ein, dass es in einer diversen Medienlandschaft mit vielen Anbieter nicht so leicht sei, einen Leuchtturm zu erschaffen.

Vielleicht, ach, was bestimmt baut Sabine de Mardt in Polen gerade so einen leuchtenden Turm.