Wie bringt man die „Tagesschau“ passgenau zu den Menschen? Es ist eine Frage, die auch Juliane Leopold beschäftigt, beschäftigen muss. Es gehört zu ihrem Job als Chefredakteurin Digitales bei ARD-aktuell. Zu welchen Antworten sie so kommt, hat sie gerade erst auf der Digitalmesse re:publica referiert. Von aktuell 535 Carsharing-Fahrzeugen hat sie zum Beispiel erzählt, die in Berlin, Hamburg, München, Köln, Düsseldorf und Frankfurt herumkurven mit Screens, auf die ihr Team Nachrichten projiziert. So will die Traditionsnewsmarke mit Leuten in Kontakt treten, die, im ARD-Linear-Sprech, die Verabredung mit der 20 Uhr-„Tagesschau“ nicht mehr einhalten.

Spannend, diese neue Flottenstrategie auf vier Rädern, ohne Frage. Aber wie steht’s eigentlich um Juliane Leopolds eigenen Fahrplan?

Wie ist es für sie, bei solchen Highlight-Events der Digitalbranche, wo sie ihr Wissen unter Gleichgesinnten ausspielen kann, auf Ulrike Demmer zu treffen, die amtierende RBB-Intendantin? Stellt sie sich dann vor, was wäre gewesen, wenn? Wenn also nicht Demmer, sondern sie das Prozedere in Potsdam bis zum Schluss durchgehalten hätte?

Fast auf den Junitag vor einem Jahr machte die damals 40-Jährige einen überraschenden Rückzieher bei der Intendantenwahl. Was sie bei LinkedIn dazu schrieb, kam bei einigen so an, als habe Leopold keine Lust auf die Führung eines Ladens, der sich ihrem Eindruck nach nicht verändern wolle, weil die Beharrungskräfte zu stark und die Verletzungen aus der Krise post Patricia Schlesinger zu groß seien.

War das so?

Juliane Leopold hat sich in der Mittagspause vom re:publica-Trubel ins angrenzende Grün der „Station Berlin“ entfernt. Es nieselt, aber es macht ihr nichts aus. Sie scheint hart im Nehmen zu sein. Gut so.

 

"Ich würde es wieder tun, wenn sich die Gelegenheit ergibt.“ Juliane Leopold über ihre Bewerbung als Intendantin

 

Natürlich stelle sie sich die „Was wäre, wenn“-Frage, „das ist doch menschlich“, antwortet sie. Sollte ihre Absage beim RBB jemanden verletzt haben, täte es ihr sehr leid. Sie selbst sei „total im Reinen“ mit sich, es sei die richtige Entscheidung in einem Abwägungsprozess gewesen: „Da, wo ich momentan bin, kann ich die digitale Transformation von Journalismus wirkungsvoller und zügiger vorantreiben.“

Sich überhaupt beim RBB als Intendantin beworben zu haben, bereut Juliane Leopold Null. Es sei eine „sehr wichtige und wertvolle Erfahrung“ gewesen, um zu verstehen, wie die ARD auch an anderer Stelle funktioniert. „Ich würde es wieder tun, wenn sich die Gelegenheit ergibt.“ Denn, fährt sie selbstbewusst fort: „Ich habe Ziele, so ist es nicht. Aber statt eines Masterplans trage ich einen großen Rucksack Idealismus auf dem Rücken, den ich bei allen Ambitionen nicht vergessen möchte.“

Ihre Zielstrebigkeit wurde (im Unterschied zu diesem Fernsehschaffenden) von keinem klangvollem Beziehungsnetzwerk gestützt, als sie sich entschloss, ihre Leidenschaft für digitale Kommunikation und Journalismus zum Beruf zu machen.

Juliane Leopold © NDR/Nadine Rupp
Juliane Leopold ist die Tochter eines Polizisten und einer Kindergärtnerin. Sie ist „kein Kind des Systems“, wie sie es nennt, volontierte also nicht bei den Öffentlich-Rechtlichen, sondern arbeitete nach dem Publizistik-Studium in Berlin zunächst als Social-Media-Expertin für Zeitungsverlage (u.a. „Neue Zürcher Zeitung“, „Zeit Online“). Von 2014 bis 2016 baute sie als Chefredakteurin den deutschen Ableger des US-Newsportals BuzzFeed auf.

Und Juliane Leopold ist Ossi, 1983 in Halle an der Saale geboren, in einer Region, wo einst das Herz der chemischen DDR-Industrie schlug.

Das Reisemagazin „Merian“ schrieb einmal, der schlechte Ruf klebe an Halle „wie verschwitzte Haut an Autoledersitzen“. Den diversen unvorteilhaften Statistiken („ärmste/kränkste Bewohner Deutschlands“ und so) zum Trotz ist es eine sehr schöne, sehr grüne und sehr lebenswerte Universitätsstadt, mit der die ARD-Managerin noch immer viele positive Dinge verbindet, aber auch Gespräche, die unter ganz anderen Vorzeichen ablaufen als Gespräche in Hamburg oder Berlin:

„Wenn ich in Hamburg sage, ich arbeite bei der 'Tagesschau', höre ich: Mensch, cooler Laden. Es kommt auch Kritik, aber respektvoll. In Ostdeutschland gibt es Ecken, wo man den Job vielleicht kritischer sieht. Das ist aber auch okay, solange man mit Respekt miteinander umgeht und das Zuhören nicht verlernt.“

Vermittlerrolle zwischen Ost und West

In solchen, nicht erst seit Corona angespannten Momenten, versucht Juliane Leopold, erst gar keine Spannungen entstehen zu lassen, „denn am Ende eint uns mehr als uns trennt“. Sie sieht sich in der Vermittlerrolle zwischen Ost und West, weil sie in beiden Welten zuhause ist. Als „Ossi vom Dienst“, der der ARD den Osten erklärt, sieht sie sich hingegen nicht.

Aber es ist schon so, dass sie in vielen Debatten denkt: „Es ist gut, dass du da bist und eine andere Position einnehmen kannst". Weil sie eben Zusammenhänge versteht. Sie versteht, warum sich die Menschen in Ostdeutschland auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung nicht gleichwertig gesehen und repräsentiert fühlen und warum das eine Kränkung nährt, die sowohl ihre politischen Entscheidungen als auch ihre Einstellung zu den Öffentlich-Rechtlichen beeinflusst.

Viele Qualitätsmedien, auch mehrheitlich die ARD, erreichen im Osten die Menschen „weniger gut als im Westen“, weiß Juliane Leopold aus eigener Erfahrung. Auch „Die Zeit“, bei der sie arbeitete, ist ja nicht das Lieblingsblatt der Ostdeutschen. Hineinspielt, dass so wenig ostdeutsches Personal auf Führungsposten sitzt. Ein „Riesenproblem“, findet sie.

Aus privaten Gesprächen kennt sie die Haltung: Na ja, ihr Ossis seid ja nicht die Mehrheit in Deutschland, jetzt ist irgendwann auch mal gut mit dem Ruf nach immer mehr Repräsentation. „Kann man so sehen", sagt sie, „aber ich glaube, dass die Möglichkeit, am Tisch zu sitzen und mitzusprechen, zur Akzeptanz und zum Miteinander beiträgt.“

Frau, jung, Ossi – damit erfüllt Juliane Leopold automatisch ideale Voraussetzungen, um am ARD-Tisch mitzusprechen, auch zu führen, und zwar völlig losgelöst von der Frage, wie gut oder schlecht sie dafür geeignet wäre.

Das sagen jedenfalls diejenigen, die es etwas weniger gut mit ihr meinen, weil sie finden, dass sich Leopold zwar sehr gut verkaufen könne, seit sie 2019 nach nur einem Jahr bei ARD-aktuell von der Redaktionsleiterin tagesschau.de zur Digital-Chefredakteurin aufgestiegen ist und zeitgleich Mutter wurde. Andererseits finden sie, dass Leopold vom Redaktionsmanagement überfordert sei. Die diversen Pannen im „Tagesschau“-Universum (wie diese versehentlich abgeschickte, skurrile „Eilmeldung“ aus dem April oder all die seit Frühjahr 2023 auf dieser Korrekturseite dokumentierten Fehltritte) legen sie ihr zur Last, weil die Strukturen, für die sie ja mit verantwortlich ist, nicht stimmten.

Tja, die Strukturen der ARD zu durchschauen, das ist ja generell nicht so einfach. Das muss man sich schon antun wollen.

Als Juliane Leopold 2018, nach einer zweijährigen Phase als frei flottierende Projektberaterin, zum „Team Blau“ stieß, hatte sie bis dato nur klassische Verlage und ein Start-Up von innen gesehen. Die gestalterische Freiheit und Macht, die sie zumindest in der Anfangszeit bei BuzzFeed genoss, bis dann die Zahlen relevanter wurden und Entscheidungen über London gehen mussten, suchte sie bei tagesschau.de. Ausgerechnet.

Dass es in diesem ARD-Laden, der ja auf Zulieferungen aus allen anderen Landesfunkhäusern angewiesen ist, nicht unbedingt weniger kompliziert zugeht als zuletzt bei BuzzFeed, war ihr schon bewusst. Sie sagt: Das Puzzlestück Öffentlich-Rechtliche habe in ihrem Lebenslauf halt noch gefehlt. Und sie findet, dass ihr Blick von außen an mancher Stelle nützlich sei, „um sich selbst zu prüfen, zu hinterfragen und Entscheidungen besser zu erklären“. Was sie sich dabei bewahren möchte, sei „eine gewisse Leichtigkeit“: Und den Humor.

Den braucht es auch, wenn sie dort in Hamburg, wie sie lachend sagt, „bestimmt dreimal die Woche gegen eine Wand" laufe, was dem Fakt geschuldet sei, dass sie eine rein digitale Vita und Expertise habe:

„Das erzeugt Reibung, wenn man in eine Welt kommt, die beidhändig funktioniert und auch funktionieren muss, weil die ARD im Linearen immer noch sehr viele Menschen erreicht und nicht aufgeben will. Das zu bewahren und gleichzeitig die Existenz im Digitalen abzusichern in einer ohnehin angespannten Beitragssituation, ist ganz schön zackig, wir sind uns da nicht immer einig.“

Dennoch blickt die Chefredakteurin mit Stolz auf das, was sie und ihr Digital-Team bisher erreicht haben.

Dass sie zum Beispiel die Reichweite auf den eigenen Plattformen in der Corona-Zeit „mehr als verdoppelt“ hätten (was sich post Corona im Zuge des allgemeinen Nachrichtenermüdungstrends freilich relativiert hat) und dass damit auch das Digitale bei ARD-aktuell an Bedeutung zugenommen habe.

Stolz ist sie auch darauf, dass sie es geschafft hätten, sich auf die digitale ARD-Flottenstrategie der Big Five zu einigen, die tagesschau.de, Mediathek und Audiothek sowie Sportschau.de und den Kinderbereich mit KiKa-Player umfasst. Dieser „große Schulterschluss“ bedeutete für sie, dass sie anfangen konnte, neue Rollen zu schaffen, etwa eine schlagkräftige Entwicklerunit zusammenzustellen, die gemeinsam mit dem NDR und Sportschau.de Synergien erzeugt, „anstatt dass jeder im Kleinklein vor sich hin entwickelt“.

Next Steps: Login-Bereich und ein Update

Nach dem Relaunch von tagesschau.de in 2021 steht in diesem Jahr die Personalisierung durch einen Login-Bereich an. 2025 soll dann die „Tagesschau“-App ein Update bekommen, sodass die für die zahlreichen Drittplattformen produzierten Vertical Videos auch in der App konsumierbar sind. „Damit nutzen wir Inhalte mehrfach, werden also sparsamer und erreichen damit hoffentlich neue Zielgruppen“, erklärt die Digital-Chefin.

Um den ungebremsten Wildwuchs – es gab ja ARD-weit allein 800 (!) Social-Media-Accounts – ein  bisschen einzuhegen, ist das schon mal kein unkluges Vorhaben, was Juliane Leopold da betreibt. Eine andere Herausforderung steht ihr nun unmittelbar bevor.

Juliane Leopold © NDR/Nadine Rupp
Mit der Europawahl am 9. Juni beginnt ein Superwahljahr mit Abstimmungen auch in Ostdeutschland und den USA, das leicht zum Supermanipulationsjahr werden könnte, weil mit Künstlicher Intelligenz so vieles Unmögliche möglich geworden ist. So war die „Tagesschau“ schon mehrfach Opfer von Deep Fakes, von echt wirkenden Webseiten und Videos, die desinformieren sollen. Was die Digital-Chefin dem entgegensetzen will?

„Unsere Erfahrung“, sagt sie, und „das gut eingespielte Wahl-Team“. Zusätzlich sei der ARD-„Faktenfinder“ am Start, der um die Rubrik „Kontext“ erweitert wurde und außerdem jetzt stärker mit den anderen Faktencheck-Units der ARD vernetzt ist. Denn: „Es ist uns wichtig, dass wir in der Wahlberichterstattung gut performen. Wir wollen schnell sein, wir wollen genau sein.“

Dazu gehöre auch, digital noch mehr zu informieren, und zwar schon Wochen vor dem jeweiligen Wahlereignis, um so der demokratischen Meinungsbildung zu helfen. Ein „oh schlimm, schlimm, ganz viele AfD-Prozente, woran liegt’s, was ist da los, lass uns mal jemanden im Osten abwerfen und dann schauen wir wieder weg", also diese Art von schnelllebigem Helikopterjournalismus findet Leopold „nicht so informativ, um Zusammenhänge zu verstehen“, dafür müsse man „längerfristiger am Ball bleiben“ und „mehr Inhalte veröffentlichen“. Das habe tagesschau.de schon im Vorfeld der Europawahl und stärker als die Mitbewerber so gehandhabt.

An dieser Stelle müssen wir geschwind noch einmal auf die Langfristigkeit von Juliane Leopolds ARD-Karriere zu sprechen kommen.

Ihr aktueller Vertrag endet im September 2025. Das ist noch eine Weile hin. Aber bis dahin könnte sie möglicherweise einen NDR-Kollegen an den WDR verlieren, den sie sehr gut kennt, weil er im selben Jahr wie sie in die Chefredaktion von ARD-aktuell in Hamburg eintrat: Es ist der fast gleichaltrige „Tagesthemen“-Chef Helge Fuhst, der Nachfolger von Intendant Tom Buhrow werden will.

In Köln ist die Messe bekanntlich gelesen, was nicht ausschließt, dass der Rundfunkrat noch weitere Bewerber aus dem Hut zaubern könnte. Dass sie es sein könnte, hält Juliane Leopold indes für „ziemlich unwahrscheinlich“, das Gremium habe doch schon „eine wirklich breite Auswahlmöglichkeit“.

Nichtsdestotrotz macht sie sich schon Gedanken, wie es mit ihr weitergeht. In Hamburg weiterzumachen, dort, wo sie auch privat sehr gut angekommen ist, weil das viele Wasser und das viele Grün und dazu die gute Infrastruktur ein Leben mit Kind komfortabel machen, darauf habe sie „große Lust“. Sie und ihr „Tagesschau"-Team hätten noch „viele Ziele“.

Andererseits hat Juliane Leopold die Erfahrung gemacht, „dass es immer klug ist, sich Offenheit zu bewahren für das, was den beruflichen Antrieb ausmacht“. Sie schließe also nichts aus.

Ernst sollte man dieses Bekenntnis von ihr nehmen: „Ich glaube sehr an öffentlich-rechtlichen Journalismus, da bin ich Überzeugungstäterin.“

Es heißt ja, dass Konvertiten noch strenger sind als geborene Gläubige.