Diese Telegeschichte beginnt am 01. Januar 1984 in der beschaulichen Vorderpfalz. An diesem Tag wird dort das erste deutsche Kabelpilotprojekt in Betrieb genommen. In ausgewählten Haushalten in Ludwigshafen, Frankenthal, Bad Dürkheim, an der Südlichen Weinstraße sowie in Teilen von Neustadt an der Weinstraße und Speyer sind fortan 19 neue TV-Kanäle und 20 Hörfunkprogramme zu empfangen. Der Start verläuft ohne großen Festakt. Stattdessen hält CDU-Ministerpräsident Bernhard Vogel seine Neujahrsansprache passenderweise im Programm des ersten privaten Radio-Anbieter des Landes „Radio Weinstraße“. In seiner Rede beschreibt Vogel die Ereignisse als einen Meilenstein der Medienpolitik. „Ab heute gibt es bei Ihnen nicht nur, wie bisher, das Angebot der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, sondern in Konkurrenz dazu erstmals auch private Veranstalter.“ Diesen Schritt gehe man nicht, so versichert er weiter, „um Sie zu mehr Fernsehkonsum zu verführen, sondern damit Sie mehr Wahlfreiheit, mehr Meinungsfreiheit und mehr Meinungsvielfalt haben“. Da sind sie wieder, die drei vertrauten Argumente der CDU.

Jürgen Doetz © Sat.1 Jürgen Doetz startet das Privatfernsehen
Das erste private Fernsehprogramm beginnt unter dem sperrigen Namen PKS (Programmgesellschaft für Kabel- und Satellitenrundfunk) seine Ausstrahlung um 10:30 Uhr. Denkbar unspektakulär sitzt Geschäftsführer Jürgen Doetz im braunen Anzug, adrett gescheitelt vor einer Stellwand, auf der ein Sternenhimmel und das minimalistische PKS-Logo zu erkennen sind. Er liest ein paar Grußworte vom Blatt ab: „Guten Morgen, meine Damen und Herren, Ihnen allen wünscht die PKS ein glückliches und erfolgreiches neues Jahr. Für die Weiterentwicklung des Fernsehens in der Bundesrepublik Deutschland ist dies heute ein ganz besonderer Tag. Sie sind in dieser Minute Zeuge des ersten deutschen privaten Fernsehveranstalters, der Sie mit einem Vollprogramm täglich ab 16:45 Uhr über den Nachmittag und Abend begleiten will.“ Rund drei Minuten dauert die Einleitung. Dann übergibt er das Wort an Moderatorin Irene Joest. Sie kündigt als ersten Programmbeitrag eine Aufführung der „Feuerwerksmusik“ von Georg Friedrich Händel an. In den kommenden Stunden folgen noch Aufnahmen vom Ballett „Schwanensee“ und von der Operette „Die Fledermaus“, ehe eine Aufzeichnung von Beethovens „9. Symphonie“ mit den Berliner Philharmonikern den Abschluss des Tages bildet. Es geht anfangs erstaunlich klassisch und bieder beim Privatfernsehen zu. Noch ist kaum vorstellbar, was dort später noch abgehen wird.

Der Sendestart von PKS wird in den nächsten Jahren oft als der „medienpolitische Urknall von Ludwigshafen“ bezeichnet, weil er den Beginn des dualen Rundfunksystems markiert. Fast zeitgleich findet im neuen Kabelnetz ein nicht minder revolutionärer Akt statt. Er verschwindet bloß beinahe im Schatten der Strahlkraft des Privatfernsehens. Auf dem Kanal 19 nimmt nämlich der erste „Offene Kanal“ Deutschlands seine Arbeit auf. Sogar schon um 9:45 Uhr und somit eine Dreiviertelstunde vor dem kommerziellen Fernsehen.

Die ersten Bilder stammen vom Künstlertrio „Cut“. Sie zeigen einen satirischen „Rückblick“ auf das gerade wenige Stunden alte Jahr 1984. Dafür kombinieren sie Science-Fiction-Impressionen aus Computerwelten mit Zitaten von George Orwell. Die Botschaft wird schnell klar. Das Fernsehen läutet das Ende des Privatlebens der mündigen Bürger:innen ein. Daher schließt das Jahr in ihrer Erzählung damit, dass das frisch geborene Kabelfernsehen wieder abgeschafft und die neu errichtete Sendezentrale kurzerhand abgerissen wird. Wow, was für eine Message ausgerechnet zum medienpolitischen Urknall in Deutschland und was für ein furioser Auftakt für den Offenen Kanal.

Die dritte Säule des Rundfunks

Das Kabelpilotprojekt und die Einführung des Privatfernsehens waren Vorhaben, die vor allem von der CDU und den schwarzgeführten Bundesländern vorangetrieben wurden. Viele in der Union empfanden den bislang alleinstehenden öffentlich-rechtlichen Rundfunk als zu „linkslastig“. Besonders deutlich wurde dies im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf 1975, als die CDU mit ihrer „Rotfunk“-Kampagne gegen den WDR vorging. Mit den neuen kommerziellen Sendern erhofften sich konservative Kräfte, auf diese leichter einwirken und so die eigenen Ansichten auf den Bildschirmen platzieren zu können. Hierbei setzte man insbesondere auf Leo Kirch, der als CDU-nah und Freund von Bundeskanzler Helmut Kohl galt. Er war zudem der einflussreichste Lenker hinter der PKS.

Die jahrzehntelang öffentlich ausgefochtene parteipolitische Schacherei um Einfluss und Posten in den Anstalten führte in der Bevölkerung zu einem spürbaren Vertrauensverlust in die bestehende Rundfunkordnung. Zunehmend lauter wurden die Vorwürfe, dass die eigentlich im Grundgesetzt verankerte Staatsferne lediglich Makulatur sei und Personal- oder Programmentscheidungen nicht aus journalistischen Gründen, sondern rein nach Parteibuch getroffen würden. Anschuldigungen, die bis heute regelmäßig vorgetragen werden.

Parallel wuchs seit den 68er-Protesten der Wille nach einer stärkeren Beteiligung der Bürger:innen an demokratischen Prozessen. In diesem Zug breitete sich ebenso ein Bewusstsein dafür aus, welchen zentralen Einfluss (Massen-)Medien auf Gesellschaften haben. Daraus wuchs wiederum die Forderung, dass die Vermittlung von Medienkompetenzen einen wichtigen Auftrag des Bildungssystems darstellen sollte.

In diesem Spannungsfeld aus parteitaktischem Kleinkrieg, gesellschaftlichen Neuordnungen und bildungspolitischen Veränderungen kam die Idee für eine dritte Säule des Rundfunks auf. Neben den öffentlich-rechtlichen Anstalten und den privatrechtlichen Sendern sollte ein „Bürgerrundfunk“ etabliert werden, in dem Bürger:innen selbst Fernsehen machen können. So sollte frei von jeglichen Parteieinflüssen und monetären Zielen ein Programm entstehen, das von maximaler Partizipation, Gleichberechtigung und Vielfalt geprägt war. Inspiriert vom amerikanischen Modell der „Open Access Channels“ entwickelte sich das Konzept der Offenen Kanäle in Deutschland, die dafür der Bevölkerung den nötigen Zugang zu Technik, Studios und Sendezeiten herstellen sollten.

Maximale Freiheiten

Für die Umsetzung des Kabelpilotprojekts in Ludwigshafen war die Anstalt für Kabelkommunikation (AKK) zuständig. Sie verantwortete den technischen Sendebetrieb hielt Studios, Geräte und Übertragungsmöglichkeiten für die Anbieter bereit. Dafür hatte sie in der Turmstraße 8 zwischen einem Autobahnkreuz, dem Hauptfriedhof und einem stillgelegten Schlachthof ein Sendezentrum eingerichtet. Aus dem Studio im Keller kamen sowohl die ersten Übertragungen von PKS/Sat.1 als auch die Programme des Offenen Kanals in das pfälzische Kabelnetz. Die beiden sehr unterschiedlichen Anbieter teilten sich anfangs also dieselben Räume.

Gebäude der AKK in Ludwigshafen © IMAGO / Sven Simon Hierher kamen sie von nah und fern: Das Gebäude der Anstalt für Kabelkommunikation in Ludwigshafen

Für die Interessenten, die eine Sendung gestalten wollten, stellte die AKK in ihrem Gebäude Aufnahmestudios, Kameras, Tontechnik und Schnittplätze kostenlos zur Verfügung. Sie beriet außerdem in Umsetzungsfragen und übernahm einen Teil der Produktionskosten. Mit diesen Möglichkeiten konnten jetzt alle Fernsehen (und Radio) machen. Die einzige Bedingung war, dass sie in der Bundesrepublik oder in West-Berlin wohnten. Erst mit dem Aufkommen weiterer Ableger wurde die Teilnahme an einen Wohnsitz im jeweiligen Sendegebiet beschränkt. Anfangs reisten Menschen aus dem ganzen Bundesgebiet nach Ludwigshafen, um dort ihre Beiträge zu drehen. Sie genossen die Freiheit, ihre Sendungen genau so umsetzen zu können, wie sie wollten und exakt die Themen aufgreifen zu dürfen, die ihnen wichtig waren. Ohne dass irgendjemand intervenierte.

Die wichtigste Prämisse der Redaktion des Offenen Kanals war es daher, dass man sich niemals in inhaltliche Fragen einmischte. Um jegliche Form von Einflussnahme oder Zensur zu vermeiden, wurden die Bänder vor der Ausstrahlung nicht einmal gesichtet. Entsprechend waren die Bürger:innen für ihre Ergebnisse juristisch und presserechtlich allein verantwortlich.

Wie konsequent man diesen Ansatz verstand, erklärte ein Vorstandsmitglied des OK Berlin anlässlich dessen Gründung im Jahr 1985: „Wir haben beispielsweise lange darüber gestritten, was passiert, wenn ein Neonazi kommt und einen Beitrag machen will. Viele unserer Mitglieder wollten das von vornherein verhindern, aber wir haben schließlich durchgesetzt, dass er das machen kann. Im Offenen Kanal soll ja gerade nicht tabuisiert werden. Es gibt keine Zensur.“

Die einzige Grenze galt Vertreter:innen von Parteien, Behörden oder Rundfunkanstalten, die von einer Nutzung grundsätzlich ausgeschlossen blieben. Zugleich war jede Form von Werbung verboten, ganz gleich, ob sie kommerzielle Produkte, politische Vereinigungen oder religiöse Überzeugungen betraf.

Kreuzritter im Schlauchboot und singende Piraten

Diese radikale Offenheit und Toleranz stießen nicht bei allen auf Wohlwollen. Der Vorsitzende der baden-württembergischen Expertenkommission „Neue Medien“, Hans Schneider, warnte eindringlich vor der Einführung eines solchen Kanals. Für ihn bestand die Gefahr darin, dass man einen Zugang zu einer öffentlichen Bühne „für Chaoten, Sektierer, komische Käuze und Leute mit minderbemitteltem Verstand“ liefere.

Ganz aus der Luft gegriffen war diese Sorge nicht. Tatsächlich zog der Offene Kanal eine Reihe schriller Persönlichkeiten mit skurrilen Beiträgen an. Ein Mann reinszenierte etwa die Kreuzzüge von Richard Löwenherz, allerdings äußerst kläglich, mit angeklebtem Wattebart und gelbem Schlauchboot. Unter dem Titel „Senioren singen und spielen auf“ trällerte eine Gruppe lebensälterer Menschen fröhlich: „Do wird die Wutz geschlacht, do wird die Wurscht gemacht, und herrlichen Wein gibt’s im Pfälzerland.“ Ein singender Pirat trat vor zwei Aerobic-Tänzerinnen auf, Videokünstler:innen präsentierten ihre abgefahrenen Werke, Möchtegern-Regisseure zeigten ihre Horror-Versuche und eine fußballverrückte Schulklasse verlor ihre Köpfe. Und natürlich traten unzählige langhaarige Liedermacher auf, die von Kriegen, Atomkraft und saurem Regen sangen.

Das mochte oft schräg wirken und zuweilen schwer erträglich gewesen sein, doch bedenkliche, radikale oder gar verfassungsfeindliche Inhalte gingen so gut wie nie durch das Kabel. Hier zeigte sich, dass die übertragene Eigenverantwortung eine disziplinierende Wirkung entfaltete und die Menschen eher dazu brachte, sich im Zweifel zurückzuhalten, um keinen Ärger zu riskieren.

Es gab nicht nur Merkwürdigkeiten zu sehen. Einen Großteil der Sendezeit nahmen Diskussionsrunden ein, in denen relevante Themen zur Sprache kamen. Mal ging es um den Umgang mit Drogensucht, mal um den Leistungsdruck in der Schule und mal um die moderne Gestaltung von Innenstädten. Nicht selten nutzten Jugendliche das Forum, um ihre Sorgen und Perspektiven zum Ausdruck zu bringen. Einige spielten Sketche gegen Ausländerfeindlichkeit, andere thematisierten die Verschmutzung des Rheins.

„Die machen das schon richtig.“

Klar, das Programm kam von unerfahrenen Amateuren. Die wenigsten verfügten über Produktions- oder Redaktionserfahrung oder besaßen eine eigene Videokamera. Das war den Ergebnissen natürlich deutlich anzusehen. Dadurch wurde der Offene Kanal oft belächelt und selten ernst genommen. Gegen diese Abwertung stemmte sich Ulrich Kamp, der damalige Redaktionsleiter, vehement. In einem ausführlichen Interview mit der „Zeit“ erklärte er seine Haltung: „Wenn hier ein 70-Jähriger eine Livesendung macht, messe ich das nicht an meinen Fernsehansprüchen. Die machen das schon richtig. Der Offene Kanal ist der einzige von den 22 Kanälen, die man hier empfangen kann, der eine ganz eigene Bildsprache hat. Alle anderen senden Konfektionsware. Wenn man sich darauf einlässt, dass hier mit aus Profisicht völlig seltsamen Mitteln gearbeitet wird, dann ist das spannend.“

Regiepult in der AKK © IMAGO / Sven Simon Regiepult in der Anstalt für Kabelkommunikation in Ludwigshafen

Als eindrucksvolles Beispiel verwies Kamp auf einen Beitrag jugendlicher Strafgefangener, die sich mit dem Widerstand im Dritten Reich auseinandergesetzt hatten. Viel zentraler als die gesendeten Ergebnisse seien für ihn ohnehin die Selbsterfahrungen, die die Produzierenden während des Fernsehmachens erlebten. Nämlich die Erkenntnis, sich als Teil einer demokratischen Gesellschaft zu verstehen. „Wichtig ist, dass die Leute kapieren, dass sie wichtig sind. Dass sie Rollen spielen, die wichtig sind.“ Und das gelte für Väter, Töchter, Straßenbahnfahrer, Alkoholiker oder Rentnerinnen.

Von der ersten Stunde an war der Offene Kanal Ludwigshafen eine große Wundertüte, aus der täglich zwischen 08:30 Uhr und Mitternacht pausenlos neue abenteuerliche, künstlerische oder gesellschaftliche Kleinode hervorsprangen. Diese waren für das Publikum nie planbar und genau das war beabsichtigt. Um wirklich eine neutrale Instanz zu bleiben und einzelne Produktionen nicht einmal durch die Wahl der Sendezeit zu bevorzugen, setzte die Redaktion zuerst auf das sogenannte „Schlangenprinzip“. Die Beiträge liefen streng in der Reihenfolge, in der sie eingereicht wurden. Das führte mitunter zu kuriosen Verhältnissen, wenn zur Primetime obskure Experimente zu sehen waren, während relevante Themen an den Randzeiten verschwanden. Ein reguläres Programmschema gab es dadurch nicht, was die öffentliche Wahrnehmung und eine Veröffentlichung in Fernsehzeitschriften zusätzlich erschwerte. Erst nach einem Jahr rückte man davon ab und begann, einzelne Teile abends zu wiederholen und am Wochenende Zusammenfassungen zu zeigen.

Einrichtungen der Medienbildung

Heute existieren in Deutschland knapp 140 sogenannte „Bürgermedien“, darunter die Offenen Kanäle im Fernsehen und Radio. Betrieben werden sie inzwischen meist von den Landesmedienanstalten, die sie aus ihrem Anteil am Rundfunkbeitrag finanzieren. Ganz so frei wie damals geht es dort nicht mehr zu. In den meisten Nutzungsordnungen ist mittlerweile ein klares Bekenntnis zur demokratischen Grundordnung vorgeschrieben, oder es finden sich Bestimmungen, die diskriminierende, fremdenfeindliche oder menschenverachtende Inhalte untersagen. Nach wie vor dürfen Mitglieder von Parteien und Behörden kein eigenes Programm gestalten. Werbung, insbesondere für politische Organisationen, ist ebenso weiterhin tabu.

Viele Offene Kanäle haben sich längst zu Medienprojektzentren oder medienpädagogischen Einrichtungen entwickelt, in denen sich Jugendliche und Schulklassen ausprobieren können. Sie sind zugleich ein wichtiger Ausbildungsort für Medienberufe geworden. Diesen Weg ging auch Deutschlands erster Offener Kanal, der heute unter dem Namen OK-TV Ludwigshafen firmiert. Nach einer längeren Zwischenstation in der Prinzregentenstraße 48 ist er seit dem Jahr 2025 im Gebäude der Medienanstalt Rheinland-Pfalz untergebracht, das direkt neben dem alten AKK-Zentrum errichtet wurde. Damit ist er gewissermaßen an seine Wurzeln zurückgekehrt.

Übrigens, Offene Kanäle können die Geburtsstätte künftiger Stars sein. In Hamburg moderierte etwa ein gewisser Christian Ulmen eine wöchentliche Call-In-Show, in der er vor allem mit jungen Leuten sprach, die ihm von ihrem Alltag erzählten. Darunter waren immer wieder Anrufende, die Ulmen beschimpften oder beleidigten. Weil er mit ihnen souverän und schlagfertig umging, wurde irgendwann MTV auf ihn aufmerksam und bot ihm ein eigenes Format auf dem landesweiten Musiksender an. Das allerdings ist eine ganz andere Telegeschichte.

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