Vorurteil der Woche: Ohne eigenen Fernsehkanal hat's das neue Jugendprogramm von ARD und ZDF schwer.

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Es ist eine düstere Welt, in die Peter Boudgoust blickt, wenn er ins Internet schaut – voller "Brutalo-Videos und Katzenfilmchen auf Youtube". So hat's der SWR-Intendant in der vergangenen Woche formuliert, um die Ministerpräsidenten der Länder noch einmal nachdrücklich darauf hinzuweisen, wie wichtig ein eigener Jugendkanal für ARD und ZDF wäre. "Soll so die mediale Sozialisation zukünftiger Generationen aussehen?", drohte Boudgoust. "Sicher nicht, das kann die Politik nicht wollen."

Das wollte die Politik auch nicht. Und entschied: Boudgoust kriegt den von ihm befürworteten Jugendkanal. Und zwar, um noch effektiver gegen netzgewordene Brutalo-Videos vorzugehen, gleich ganz im Internet, dafür aber nicht im klassischen Fernsehen.

Zufrieden ist der SWR-Intendant trotzdem nicht. In einer Stellungnahme ließ er sich seine Enttäuschung deutlich anmerken. Man müsse sich jetzt aufs Internet "beschränken", "das bringt Probleme mit sich", es werde "schwerer, das Jugendangebot zum Fliegen zu bringen".

Peter Boudgoust© SWR/Alexander Kluge

Sein Kollege Lutz Marmor, ARD-Vorsitzender und NDR-Intendant, brachte die Sorge nochmal auf den Punkt: "Dass es kein eigenes Programm im Fernsehen geben wird, erschwert (...) den Start."

Für eine noch drastischere Wortwahl entschied sich der SWR-Fernsehausschuss, der den Beschluss eine "Fehlentscheidung" nannte: Die Präsenz im Netz werde "dem öffentlich-rechtlichen Auftrag, alle Altersstufen von ARD und ZDF zu erreichen, nicht gerecht".

Und die Gremienvorsitzenden der ARD schnürten diese Woche noch mal all ihre Empörung zusammen: "Tatsache ist, dass Fernsehen dennoch ein wichtiges Leitmedium bleibt und ein linearer Kanal für die Wahrnehmung des Angebots in der Zielgruppe der 14- bis 30-Jährigen ein bedeutender Faktor gewesen wäre."

Aus diesem sich stetig vergrößernden Schneeball der Enttäuschungszitate gibt es vor allem zwei Dinge zu lernen. Erstens: Auch Siege werden in der ARD bei Bedarf wie Niederlagen behandelt. Und zweitens: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk krankt an einer verlernten Kompromissfähigkeit; daran, dass zahlreiche Verantwortliche der Ansicht sind, sie allein könnten durchsagen, wie genau der gesellschaftliche Auftrag zu erfüllen ist, bitteschön ohne dass ihnen da jemand reinpfuscht, außer alle paar Jahre mal die Erbsenzähler von der KEF.

Dabei ist doch die Frage: Stimmt das, was die Intendanten, Ausschüsse und Gremiensitzer sagen? Hat es das neue Jugendprogramm ohne eigenen Fernsehkanal wirklich so viel schwerer?

Um darauf eine Antwort zu finden, muss man sich nur mal anschauen, wie das aktuelle Jugendprogramm funktioniert, das der SWR bereits seit zweieinhalb Jahren betreibt. Ende April 2012 funktionierte der Sender die Hauptsendezeit seines digitalen Servicekanals Einsplus zur "jungen Primetime" um, in der seitdem ausschließlich Formate laufen, die nahtlos in das neue Jugendangebot übernommen werden können. Dafür hat der SWR bereits viele Millionen Euro investiert, herausgekommen sind: einige sehr gute und sehenswerte Magazine und Reportagen, viel Durchschnitt und ein paar große Peinlichkeiten. Also: ganz normales Fernsehen. Aber für junge Leute im Alter von 14 bis 29 Jahren. Jeden Abend in der Woche, vier Stunden am Stück. Im klassischen Fernsehen.

Einsplus - Fernsehen für Dich!© SWR

Genau das hält die ARD für unverzichtbar und schrieb in ihrer Broschüre "Noch Fragen? 10 gute Gründe für ein crossmediales Jugendangebot von ARD und ZDF" (pdf):

"Laut Medienforschung ist das klassische Fernsehen nach wie vor wichtig im Alltag junger Menschen. Im Schnitt sehen 14- bis 29-Jährige 128 Minuten pro Tag fern – vor 15 Jahren waren es 131 Minuten, das ist ein vergleichbares Niveau. (...) Warum sollten ARD und ZDF auf einen so wichtigen Ausspielweg verzichten?"

Ganz einfach: Weil die 14- bis 29-Jährigen, wenn sie ihre zwei Stunden im Schnitt linear fernsehen, schon heute nicht auf die Idee kommen, dafür ein Jugendprogramm der ARD einzuschalten.

In den ersten neun Monaten des laufenden Jahres kam Einsplus mit seiner "jungen Primetime" (20.15 Uhr bis 0.30 Uhr) laut SWR-Medienforschung im Schnitt auf monatlich 0,04 Millionen Zuschauer zwischen 14 und 29 Jahren. (Die Werte schwanken zwischen 0,06 Millionen wie im Juni und 0,03 Millionen wie im März und Juli.) Im September 2014 lag der Marktanteil der "jungen Primetime" (in der anvisierten Zielgruppe) bei 0,1 Prozent. Anders formuliert: Von den 14- bis 29-Jährigen Zuschauern, die zwei Stunden täglich fernsehen und von der ARD als Argument für einen Jugendkanal im TV angeführt werden, entschieden sich zuletzt 0,1 Prozent für den bereits existierenden Jugendkanal-Vorläufer. (Die Marktanteile beziehen sich auf die digitale TV-Nutzung; Zuschauer, die Einsplus noch nicht empfangen können, sind also nicht eingerechnet.)

Einsplus Zuschauerzahlen von Januar bis September 2014© AGF/GfK, TV Scope, SWR Medienforschung

Wie aus internen Quotenauswertungen des SWR hervorgeht, werden an manchen Abenden rechnerisch fast durchgehend 0,00 Millionen Zuschauer erreicht. Programm-Highlights wie zuletzt das "SWR3 New Pop Festival" kamen mit ihrer fast fünfstündigen Live-Übertragung auf 0,01 Millionen 14- bis 29-Jährige (insgesamt 0,02 Millionen Zuschauer ab 3 Jahren).

Ist das der "bedeutende Faktor", den die Gremienvorsitzenden meinten? Oder können sich die Leute vom Fernsehen einfach nicht vorstellen, dass ihr Leitmedium bei jungen Menschen gar keins mehr ist?

Fakt ist: Die ARD erreicht mit ihrem abends dezidiert als Jugendprogramm positionierten Einsplus schon jetzt im linearen Fernsehen quasi keine jungen Zuschauer; und das obwohl über zwei Jahre Zeit war, die "junge Primetime" als Programm-Alternative im Fernsehen zu etablieren und dafür sämtliche Möglichkeiten des Senderverbundes zu nutzen, um dafür zu werben.

Die Behauptung der ARD, ein Jugendprogramm sei ohne eigenen TV-Kanal "schwerer" zu etablieren, ist Unfug. Die eigentliche Herausforderung wäre gewesen, einem Jugendprogramm im linearen Fernsehen überhaupt messbar viele Zuschauer zuzuführen.

Dass die Ministerpräsidenten anders entschieden haben, muss die ARD als Glücksfall begreifen: Weil sie trotzdem beweisen kann, dass sie junges Fernsehen kann – ohne sich für verschwindend geringe Marktanteile rechtfertigen zu müssen; weil sie mit großer Freiheit experimentieren kann, wie ein öffentlich-rechtliches Programm im Netz aussehen muss, um zu funktionieren – und das wertvolle Erfahrungen auch für die Zukunft der übrigen linearen Programme bringen wird; und weil sie, wenn wirklich mal Senderechte z.B. für Serien nur an TV gekoppelt erworben werden können, noch siebenhundertdreiundelfzig andere Kanäle hat, um sie dort zu zeigen. Ebenso wie erfolgreiche Jugendprogramm-Sendungen in bestehende Kanäle geholt werden könnten. (Mein Gott, was soll denn sonst bei Einsfestival laufen?)

All das kann die ARD nicht als Chance begreifen (siehe auch DWDL-Kommentar des Kollegen Alexander Krei), sondern redet mit falschen Argumenten schon vor dem Start das potenzielle Versagen ihres Wunschprogramms herbei.

Dass online alleine soviel schwerer wird, lässt sich derzeit kaum belegen; nicht mal durch die Rubrik "Einslike", mit der seit anderthalb Jahren in der Mediathek sämtliche "jungen" Formate der ARD gebündelt werden. "Die ARD redet nicht nur über die Ansprache junger Zielgruppen, sie tut auch was", erklärte Radio-Bremen-Intendant Jan Metzger, in dessen Sender die Idee "konzipiert" wurde, zum Start. Und jetzt wüssten Sie natürlich gerne: funktioniert's? Keine Ahnung. Auf Anfrage erklärt eine ARD-Sprecherin, keine Nutzerzahlen nennen zu können, da "Einslike" ein "integraler Bestandteil" der ARD-Mediathek sei: "Die Nutzerzahlen werden nicht extra erfasst,  sondern sind in den Gesamtabrufen enthalten."

Fassen wir das kurz zusammen: Im linearen Einsplus gucken kaum junge Leute die jungen Programme, und online weiß die ARD gar nicht, wieviele junge Leute über ihre junge Mediatheken-Rubrik zu ihr finden.

Eigentlich kann sich der Senderverbund glücklich schätzen, dass ihm überhaupt jemand zutraut, ein neues Programm auf die Beine zu stellen.

Das Vorurteil: stimmt nicht.