Deutsches Fernsehen, wir müssen reden. Permanent unterstützt du irgendwen vor laufenden Kameras beim Wohnungsordnen, Schuldenberaten, Gesundernähren oder Restraurantretten und machst auf diesem Weg die Probleme anderer zu deinen eigenen. Das ist eine ganze Weile gut gegangen. Doch mittlerweile nimmt deine Selbstaufopferung ungesunde Züge an.

Weil du im ständigen Gebraucht-werden-Wollen das Maß verloren und mit all den Helptainment-Sendungen in deinen Programmen einen geradezu pathologischen Altruismus entwickelt hast, der jegliche Warnungen vor den Konsequenzen ignoriert.

Die Sache mit dem Aufräumen zum Beispiel: Fast zwanzig Jahre nachdem bei "Einsatz in 4 Wänden" die erste Zierleiste an eine deutsche Wohnzimmerwand gewittlert worden ist, und der Schwestersender erfolglos einen Genre-Neuanfang gewagt hat, schickte RTLzwei für seine neue Reality-Show "Wir räumen auf – Wie viele Dinge hast du?" (DWDL.de-TV-Kritik) gerade Collien Ulmen-Fernandes mit ihrem "bezaubernden Kreativ-Team" nach vorherigem Gruppenkuscheln in die Wohnungen von Großfamilien, um das dort im Alltag angehäufte Chaos zu inspizieren: Schränke auf, Aufräumkontrolle! "Das sieht einfach ganz unruhig aus", hihi, an die Jacke ganz unten auf dem Kleiderständer kommt ja niemand mehr ran, und Houston, "wir haben mal wieder ein Stauraumproblem".

Das Backpulver-Geheimnis der "Cleanfluencerin"

Anschließend verfrachtete eine Möbelpackfirma den ganzen Krempel in eine riesige Halle, um ihn dort auszubreiten, die Besitzer:innen damit zu schocken und zum Aussortieren zu bewegen, während daheim der Upcycling-Experte die alten Schränke zu Raumtrennern aufmöbelte, die "Cleanfluencerin" mit Backpulver den Schnodder von der Gegensprechanlage schubberte und die "Content-Creatorin im Bereich DIY, Aufräumen und Ausmisten" farbig angemalte Buchstaben über die Kleiderhaken schraubte, während Ulmen-Fernandes ("Wer bei uns die Ohren spitzt, kann massig gute Tipps abstauben") den Chaos-Besitzer:innen ins Gewissen redete: "Benutzt du es? Brauchst du es? Bedeutet es dir was? Wenn nicht: dann weg damit!"

Aber so einfach war das meistens nicht. Weil man ja nie weiß, ob nicht irgendwann doch mal ein Sinfonieorchester zum Spontangrillen vorbeikommt, für das man dann die aufgehobenen 250 Plastikmesser ganz gut gebrauchen könnte.

Überreden hilft da meist wenig, die Leute müssen schon selbst merken, dass der alte Schlitten, der kaputte Koffer, die Krücken, die nie benutzte Popcornmaschine, das Fußsprudelbad und der Kugelgrill weg können, um künftig "mit mehr Bedacht zu konsumieren", wie es die amtierende HR-"Aufräumexpertin" Sabine Nietmann den Kund:innen in ihrer gleichnamigen, sehr öffentlich-rechtlich geratenen Dokureihe einzubimsen versucht, um "ihr Leben von Ballast zu befreien". Damit der Rest auf einen Drehteller zurück ins Küchenregal gestellt werden kann, um nicht mehr nach hinten durchzurutschen.

Ernüchternde Quotenbilanz der Aufmöbelsoaps

Ex-Flugbegleiterin Nietmann gibt Antworten auf die Fragen: Wie entrümpele ich meinen Keller? Wie schaffe ich Platz in meiner Küche? Wie organisiere ich meinen Kleiderschrank? Aber sagt leider nie dazu: Warum sollte ich mir das anschauen, wenn wildfremde Leute das ranzige Olivenöl in die mitgebrachte Wegwerfbox sortieren?

Zumindest bei der RTLzwei-Variante "Wir räumen auf!" fiel das Interesse der Zuschauer:innen mit Marktanteilen zwischen knapp drei und knapp vier Prozent in der Zielgruppe eher ernüchternd aus – und das ist vielleicht auch keine Überraschung, nachdem der Sender 2019 nach vierzehn Jahren bereits seine Aufmöbelsoap "Unser Zuhause im Glück" einstellen musste, und "Einsatz in 4 Wänden" bei RTL wegen nachlassenden Interesses zuvor schon unrühmliche Ausflüge in "Die Rattenruine", "Das Messie-Museum" und "Das ausgebrannte Haus des Schreckens" riskierte, um noch zu retten, was bis zum endgültigen Aus anno 2013 wirklich nicht mehr zu retten war.

Mag sein, dass das Fernsehen nicht vom Helfen lassen kann, weil es damit ein Ideal zu verkörpern versucht, das ihm selbst nicht zuteil wurde. Der Dorstener Sternekoch Björn Freitag etwa wird in seinem beruflichen Alltag dazu gezwungen, frische Lebensmittel zuzubereiten, bei denen der Preis nur eine untergeordnete Rolle spielt – weshalb es nur folgerichtig ist, dass er jetzt bei "Viel für wenig" dafür sorgt, Leuten beizubringen, wie man auch mit schmalem Budget lecker Essen zubereiten kann.

Profi-Tipp vom Sternekoch: Eigenmarken einkaufen!

So wie bei der gerade im WDR gezeigten "Mission warme Mahlzeit – Björn Freitags Kochkurs für Bedürftige", für den sich der Kochprofi in der Bahnhofsmission in Lage der "30-€-Challenge" stellte: 30 Essen für 30 Gäste hinkriegen, die dafür einen Euro zahlen können.

Ergebnis: Mit ein paar Sachspenden aus dem Supermarkt und der hälftigen Anrechnung des Kartoffelbudgets für die nächste Woche geht das ganz gut, einfach überall Salami reinwürfeln und hinterher mit Käse überbacken, tataa!

Ganz unironisch betrachtet ist es natürlich eine hübsche Idee, Zuschauer:innen dazu zu motivieren, sich mit einfachsten Zutaten abwechslungsreiche Mahlzeiten selbst zuzubereiten, anstatt das Wochenbudget für teure und ungesunde Fertiggerichte zu verpulvern. Auch wenn die dabei abfallenden Tipps teilweise an Läppischkeit kaum zu überbieten sind.

Für Quark-Öl-Teig braucht man keine Butter ("Wir sind hier ja nicht im 5-Sterne-Ritz-Carlton!"), Kartoffeln sind "preiswerte Sattmacher", Nudeln "günstig und beliebt", und "Profi-Tipp!": "Der Kauf von Eigenmarken und No-Name-Produkten lohnt sich!" Wie ahnungsfrei Freitag dabei teilweise durch den Supermarkt latschte, den Preis für konventionell erzeugte Auberginen mit dem für Bio-Zucchini durcheinander schmiss und "Discount-Preis"-Auszeichnungen am Regal fälschlicherweise für "Angebote" hielt, war zwar bestürzend. Hat aber im Ergebnis trotzdem funktioniert.

Tränendrüsendrücktisch zum Mitweinen

Das Helptainment-Fernsehen zehrt von dem großen Vorteil, dass sich beim Aufräumen, Entrümpeln und Umorganisieren eigentlich immer irgendwas Aufregendes aus der Vergangenheit finden lässt, zum Beispiel der Opa, von dem alle dachten, er sei längst…

Die Emotionen werden fast immer fernsehgerecht dazu geliefert, sobald in irgendeiner Kiste das Familienalbum mit den Erinnerungsfotos auftaucht, die RTLzwei auf einem Tränendrüsendrücktisch drapiert, damit Ulmen-Fernandes der neben ihr schniefenden Mama eröffnen kann: "Da muss ich direkt mitweinen."

Dabei ist es ja wirklich zum Heulen, wie sehr sich das Fernsehen von den kalkulierten Reaktionen derjenigen abhängig macht, denen geholfen werden soll – obwohl die erhoffte Anerkennung oftmals alles andere als selbstverständlich ist. Nach 25 Staffeln "Rosins Restaurants", in denen unzählige Gastronom:innen den heißen Atem der anderen Dorstener Sternekücheprofessionalität im Kochjackennacken spüren durften, weiß das niemand besser als Frank Rosin.

Der Widerspruch der Undankbaren

Bei seinem kürzlich auf Kabel Eins gezeigten Einsatz in der Mönchweiler "Kantine" zertrümmerte er erst sorgfältig die "Pillepallelattomacchiatostimmung" der Betreiberin, machte klare Ansagen ("Das Frühstück muss funktionieren!"), verteilte widersprüchliche Aufgaben und erklärte in seiner unnachahmlichen Herzlichkeit: "Eins steht fest: Du machst fast alles falsch. Das müssen wir ändern. Ansonsten musst du hier in 'nem halben Jahr schließen und dann kann der Gebrauchtwagenmann von da drüben auch noch'n paar Autos hier reinstellen. Wenn du das nicht verträgst, bin ich der falsche Ansprechpartner."

Um dann doch bloß undankbaren Widerspruch zu ernten.

Es muss ein zermürbendes Gefühl sein, nicht die Wertschätzung zu erfahren, die sich die Retter:innen vom Fernsehen erhofft haben, um damit ein hübsches Stündchen Reality zu produzieren. Damit es langfristig nicht in die Bitterkeit, den Burn-out oder sogar eine ausgewachsene TV-Depression abgleitet, bleibt dem Helptainment-Fernsehen eigentlich keine andere Wahl, als sich zur Selbstheilung der eigenen Mittel zu bedienen.

Loslassen kann so befreiend sein

Nur, wer das Chaos riskiert, kann Ordnung schaffen, sagt die HR-"Aufträumexpertin". Erstmal muss dafür alles raus aus den Regalen und rauf auf den "Therapieberg".

Bei jedem einzelnen Format stellt sich dann die Frage: Benutzt du es? Brauchst du es? Bedeutet es dir was? Wenn nicht: dann weg damit, am besten in unterschiedlich farbige Boxen. Eine zum Wegwerfen, eine zum Verschenken, und eine fürs anstaltseigene "Museum".

Der erste Tag wird anstrengend. Aber schon am zweiten wirst du sektenartig überzeugt sein: "Ich bin heute morgen aufgewacht und bereit loszulassen."

Und am dritten, vierten, fünften folgt die Ulmen-Fernandes'sche Erkenntnisbilanz: "Loslassen kann so wohltuend und befreiend sein." Mehr Platz für vernünftiges Programm ist dann auch. Oder wie's Frank Rosin formulieren würde: "Ich muss die Scheiße jetzt hier auf den Tisch legen, damit wir uns endlich damit befassen." Weise, weise Worte. Und nicht vergessen: Aufkleber gehen leichter wieder vom Schrank ab, wenn man sie vorher fönt; Tafellack gibt's auch in bunt zu kaufen; Kalk lässt sich am besten mit Zitrone und grobem Salz ablösen; gefaltet passen Kinderleggins besser in die Schublade; Schubladenritzen können superleicht mit Klebeband saubergemacht werden.

Und damit: zurück nach Köln.

Alle Folgen von "Wir räumen auf – Wie viele Dinge hast du?" sind bei RTL+ abrufbar; "Die Aufräumexpertin" läuft dienstags um 21 Uhr im HR Fernsehen und in der ARD Mediathek, wo sich auch "Björn Freitags Kochkurs für Bedürftige" findet; "Rosins Restaurants" gibt's bei Joyn.