ProSiebenSat.1 habe "weitgehend im Rahmen der Erwartungen" abgeschnitten und daher ein realistisches Kursziel von 24 Euro, meint Sarah Simon von der Berenberg Bank. ProSiebenSat.1 habe "keine großen Überraschungen" geboten und somit ein Kursziel von 13 Euro, findet dagegen Patrick Schmidt von Warburg Research. Zwei Analysten, zwei Empfehlungen: einmal "Buy", einmal "Hold". Beide vom selben Tag, dem 8. August, beide in Reaktion auf dieselben Quartalszahlen der Unterföhringer Sendergruppe.

Wie kommt ein solcher Prognose-Unterschied von 11 Euro (oder 85 Prozent) zustande? Bei der einen Hamburger Privatbank geht die Londoner Senior-Analystin davon aus, dass ProSiebenSat.1 in der zweiten Jahreshälfte zulegen könne. Bei der Research-Tochter der anderen Hamburger Privatbank rät der Senior-Analyst angesichts der schwachen Profitabilität zu Vorsicht für den weiteren Verlauf des Jahres. Immerhin eine Gemeinsamkeit haben beide Kursziele: Sie liegen über der gegenwärtigen Performance der ProSiebenSat.1-Aktie, die die 12-Euro-Marke im August bislang nur von unten gesehen hat.

"Wir begleiten die von uns analysierten Unternehmen recht intensiv, durchforsten alle Finanzberichte, treffen regelmäßig das Management und die Investor-Relations-Verantwortlichen, sind zusammen mit ihnen und den Investoren in den Finanzmetropolen von London bis Zürich unterwegs", beschreibt Warburg-Analyst Schmidt im Gespräch mit dem Medienmagazin DWDL.de seine Arbeit. "Wenn man das über einen längeren Zeitraum macht, gewinnt man ein gutes Gespür für die Entwicklung des Unternehmens." Ähnlich gehen auch die Kollegen von der Konkurrenz vor. Übereinstimmendes Ziel aller Investmentbanken und Hauptzweck ihrer Research-Tätigkeit ist es, die eigenen Kunden möglichst zutreffend zu beraten und langfristig ans Haus zu binden. Weil die Schwerpunkte in der Bewertung differieren, tun dies auch die Kursziele, im Fall von ProSiebenSat.1 aktuell zwischen 11,90 Euro bei Credit Suisse und 30 Euro bei JPMorgan.

In der Regel pflegen die Analysten zu jedem von ihnen betreuten Unternehmen ein Finanzmodell, in das sämtliche verfügbaren Daten einfließen, darunter bei Medienhäusern die Entwicklung von Zuschauer-Reichweiten und -Marktanteilen, von Werbe- und Distributionserlösen oder Investitionen in neue Plattformen. Das vorherrschende Modell zur Ermittlung des Kursziels ist der Discounted-Cash-Flow (DCF), bei dem alle zukünftigen Zahlungsüberschüsse eines Unternehmens prognostiziert und dann mit angemessenen Kapitalkosten auf den Stichtag der Bewertung diskontiert werden. Der dafür genutzte Diskontsatz soll das Cash-Flow-Risiko reflektieren und den geschätzten Zeitwert des Geldes sowie einen Risikozuschlag beinhalten. Nicht von ungefähr fragt man im Börsen-Deutsch, ob künftige Chancen und Risiken im aktuellen Kurs schon "eingepreist" sind.

Frankfurter Börse – Handelsschranke© Deutsche Börse AG
Weitere Modelle, die oft ergänzend eingesetzt werden, sind die Sum-of-the-Parts-Analyse, die verschiedene Unternehmensteile separat bewertet und deren Werte dann addiert, oder Peer-Group-Vergleiche, bei denen der Unternehmenswert auf Basis anderer vergleichbarer gelisteter Unternehmen bestimmt wird. Aus dem errechneten Kursziel wiederum ergibt sich die "Buy"-, "Sell"- oder "Hold"-Empfehlung an die Investoren. Stellen Analysten ein Aufwärtspotenzial gegenüber dem aktuellen Aktienkurs oberhalb einer bestimmten Prozentschwelle – gängig sind in vielen Häusern 15 Prozent – fest, raten sie zum aktiven Kauf der Aktie. Bei einem entsprechend hohen Abwärtspotenzial empfehlen sie den Verkauf, bei begrenztem Auf- oder Abwärtspotenzial das Halten der Aktie.

Als Orientierung und Regulativ spielen Analysten eine wichtige Rolle besonders für institutionelle Anleger, die sich nicht mit jedem Einzelwert so detailliert beschäftigen können. So war es etwa Berenberg-Analystin Simon, die Anfang 2015 gegen den allgemeinen Trend eine Verkaufsempfehlung für ProSiebenSat.1 aussprach, als die Aktie des damals noch im MDax notierten Konzerns auf einem 14-Jahres-Hoch von 37 Euro stand. Ihre Begründung war die zu große Abhängigkeit vom klassischen TV-Geschäft und die daraus resultierende Anfälligkeit für einen Rückgang des Werbemarkts. Auch wenn der Aufstieg erst noch eine Weile anhielt, lag Simon nicht ganz falsch: Wer genau drei Jahre zuvor bei einem Kurs um 14 Euro beispielsweise mit 100.000 Euro eingestiegen wäre, hätte damals 264.000 Euro gehabt – von denen heute noch 80.000 übrig wären.

"Generell wird es für deutsche Anbieter wahnsinnig schwer, der Übermacht der US-Streamer eine schlagkräftige Alternative entgegenzusetzen"

Patrick Schmidt, Warburg Research

Immer wieder nutzen Analysten zudem die Finanzkonferenzen der Unternehmen, um deren Vorstände mit scheinbar kleinsten Detailnachfragen zu piesacken, die mitunter zu ungeahnten Erkenntnissen führen können. Berüchtigt ist die Telefonkonferenz vom November 2017, in der der damalige ProSiebenSat.1-Vorstandschef Thomas Ebeling seine Zuschauer als "ein bisschen fettleibig und ein bisschen arm" bezeichnete (DWDL.de berichtete). Viel harmloser, aber dennoch interessant ist ein Beispiel aus dem jüngsten Analysten-Call zu den ProSiebenSat.1-Quartalszahlen vom 7. August, als HSBC-Analyst Christopher Johnen auf die Streaming-Plattform Joyn zu sprechen kam, genauer gesagt auf die Folgen des Weiterverkaufs der Bundesliga-Rechte von Discovery an DAZN.

CEO Max Conze unterbrach ihn laut Protokoll mitten in der Frage und stellte klar: "Das war eine bewusste gemeinsame Entscheidung, die wir unter uns diskutiert haben, und es war eine sehr einfache Entscheidung, dass die Bundesliga-Freitagsspiele allein nach unserem Gefühl grundsätzlich nicht groß genug sind, um einen wesentlichen Unterschied zu machen. Und so war unsere gemeinsame Entscheidung, dass es eine bessere Strategie ist, das zu Geld zu machen und dann das Geld zu nutzen, um verstärkt auf Originals und Content zu setzen." Conze wich damit nicht nur vom offiziellen Wording seitens Discovery ab, sondern auch von der zuvor gern genutzten Argumentation, die Bundesliga-Teilrechte des Eurosport Players seien ein wertvolles Asset für das Wachstum von Joyn.

Patrick Schmidt© Warburg Research
Etliche Analysten, die deutsche Medienwerte covern, sehen die Entwicklung des werbefinanzierten Fernsehens eher kritisch und setzen Fragezeichen hinter die Fähigkeit der hiesigen Unternehmen, schnell genug nachhaltige digitale Geschäftsmodelle aufzubauen. "Generell wird es für alle deutschen Anbieter wahnsinnig schwer, der programmlichen und technologischen Übermacht der US-amerikanischen Streaming-Plattformen eine schlagkräftige Alternative entgegenzusetzen", glaubt Warburg-Mann Schmidt (Foto), der auch Axel Springer, Ströer oder die RTL Group analysiert. "Während TV Now sich nur auf die eigenen Kanäle konzentriert und keine Kooperationen eingeht, setzt Joyn auf die breite Zusammenarbeit mit anderen Anbietern. Das ist zunächst mal ein klarer Vorteil hinsichtlich Attraktivität und Reichweite, sagt aber noch nichts darüber aus, ob und wie die spätere Monetarisierung gelingen wird."

Noch skeptischer äußert sich Markus Jost, der für die bankenunabhängige Frankfurter Analysegesellschaft Independent Research Werte wie ProSiebenSat.1, Springer, Telekom, Freenet, Alphabet oder Vivendi unter die Lupe nimmt. "Das herkömmliche TV-Geschäft wird stetig nachlassen, die Werbeerlöse immer weniger werden", so Jost zu DWDL.de. "Gleichzeitig ist Streaming ein so ausgeprägtes Netzwerkgeschäft, dass der enorme Vorsprung von Netflix und Amazon selbst mit hohen Investitionen nur schwer einzuholen ist." Der Vollständigkeit halber sollte man erwähnten, dass Netflix von US-Analysten gerade selbst mehr unbequeme Fragen denn je gestellt bekommt. Es sei bemerkenswert, dass Netflix in den USA schon Abonnenten verloren habe, "bevor sie eine nennenswerte Menge an Inhalten verloren haben und bevor es direkte Konkurrenz von ihren bisherigen Zulieferern gab", so Wedbush-Analyst Michael Pachter Anfang August im "Hollywood Reporter". Das deute darauf hin, dass der Streaming-Marktführer erst recht zusätzlichen Druck spüren werde, wenn die Lizenzverträge mit Warner Bros., Disney, Fox und NBCUniversal ausliefen.

"Medientitel gehen bei einer Rezession erfahrungsgemäß besonders früh und besonders stark runter"

Markus Jost, Independent Research

Was das deutsche TV-Werbegeschäft angeht, honoriert Patrick Schmidt zumindest eine deutlich sichtbare Zunahme von Addressable TV, wenn auch von niedriger Ausgangsbasis kommend. "Die Frage ist, wie viele neue Werbekunden sich hierdurch gewinnen lassen und wie schnell man Rückgänge anderswo kompensieren kann", so der Warburg-Analyst. "Die Sender wandeln da auf einem schmalen Grat. Noch ist nationale Reichweite gepaart mit Emotion ihr wertvollstes Gut. Würden sie künftig von den Werbekunden nur noch als regionale Targeting-Anbieter angesehen, wäre das nicht in ihrem Interesse, weil sie dann erst recht mit Google und Facebook konkurrieren." Und dann ist da ja noch die allgemein um sich greifende Sorge vor einer bevorstehenden Rezession. Laut Independent-Research-Analyst Markus Jost Grund genug für eine akute Warnung an die Branche: "Medientitel gehen bei einer Rezession erfahrungsgemäß besonders früh und besonders stark runter, weil Werbeausgaben immer als einer der ersten Posten gekürzt werden." So gesehen wäre es keine Überraschung, wenn in nächster Zeit ein paar mehr "Hold"- oder gar "Sell"-Schilder hochgehalten würden.