Der Gedanke, ob man da gerade im Café eines Kölner Theaters dem deutschen David E. Kelley gegenübersitzt, hat sich im Kopf des Reporters eingenistet, weil die Parallelen nun mal frappierend erscheinen. Es gibt nicht viele Serienschöpfer, die mehr oder weniger unzusammenhängende gesellschaftliche Phänomene mit sicherem Gespür für den Zeitgeist so miteinander vermengen können, dass aus dem komplexen Konvolut ein dramaturgisch zwingendes Amalgam erwächst. Dem US-Showrunner ist das gleich mehrfach gelungen, indem er etwa MeToo, White Privilege und die Selbstgefälligkeit der Eliten unters Brennglas legte, um "The Undoing" zu erzählen, oder aus der Beschäftigung mit häuslicher Gewalt, toxischer Männlichkeit und dem Selbstoptimierungszwang der Upper Class "Big Little Lies" destillierte.

Zwar nicht im trügerisch sonnigen Kalifornien, aber doch in ähnlichen psychosozialen Gefilden ist Orkun Ertener unterwegs, der einst mit seiner preisgekrönten Schöpfung "KDD" so viel mehr als bloß eine Krimiserie, nämlich ein fein verästeltes Sittenbild aufstellte und jetzt mit dem ZDF-Sechsteiler "Neuland" so etwas wie das deutsche "Big Little Lies" vorlegt. Der Vergleich ist angemessen, weil auch hier Erscheinungsformen von Wohlstandsverwahrlosung, elterlicher Perfektionsdrang und die Alltäglichkeit von Gewalt durch erzählerische Exzellenz mit Krimi-Touch zusammengehalten werden. Was übrigens nicht heißen soll, dass Ertener beim prominenten US-Kollegen abgekupfert hat; dafür sind Figurenführung, Konfliktverlauf und Tonalität viel zu eigenständig.

Auf der persönlichen Ebene braucht Ertener hingegen keine drei Minuten, um den Gedanken der Parallelität zu zerstreuen. Der Kölner Autor mit türkischen Wurzeln benutzt selbstkritische Begriffe wie "sperrig" oder "Krimi-Mogelpackung", wenn er über sein Werk spricht, sinniert wortreich darüber, wie er die Exposition in Folge eins rückblickend etwas zügiger hätte gestalten können, und tut sich mit einem griffigen Kurz-Pitch sichtlich schwer, ehe ihm dann doch noch die Frage "Wie viel Horror steckt im Hipster?" einfällt. Sympathisches Understatement eines stets Suchenden, sich selbst Hinterfragenden, statt professionell geglättetem Hollywood-Showrunner-Selbstbewusstsein.

Neuland © ZDF/Georges Pauly "Wie viel Horror steckt im Hipster?": Orkun Ertener kehrt mit dem ZDF-Sechsteiler "Neuland" ins TV zurück

Dass Ertener überhaupt zum Fernsehen zurückgefunden hat, war nicht unbedingt selbstverständlich. Während der ganz große, nun wieder abebbende Serienhype mit Verspätung auch den deutschen Markt erfasste, war er "ein bisschen draußen", wie er es formuliert. Zwei Romane entstanden in dieser Zeit, "Lebt" 2016 und "Was bisher geschah" 2021. Der Wechsel des Mediums brachte ihm Freude, Verkaufserfolg und gute Kritiken, nachdem er auch deshalb etwas fernsehmüde geworden war, weil seine Vorstellung vom Serienmachen sich vor sechs Jahren noch nicht so reibungslos umsetzen ließ wie heute. Als Creator und alleiniger Autor einer Serie will Ertener für sein selbstverständliches Mitspracherecht auf allen weiteren Realisierungsstufen nicht ständig insistieren müssen.

 

"Wir haben als Autoren eine Bringschuld und müssen noch viel lernen, wenn wir mehr Verantwortung einfordern"
Orkun Ertener

 

Musste er nach eigenem Bekunden auch nicht bei "Neuland". Seit dem ersten Gespräch mit ZDF-Fiction-Chefin Heike Hempel und deren erklärtem Wunsch, Ertener aus der selbst gewählten TV-Pause zurückzulocken, sei klar gewesen, dass er die Rolle eines Creative Producers übernehmen würde. Konkret hieß das Mitentscheidung bei der Auswahl des Regisseurs, bei Casting, Kostüm, Locations, Szenenbild, Musik, Schnitt, Trailer und den Key Visuals für die Promotion. Von seinem langjährigen Partner auf Produktionsseite seit "KDD", Odeon-Fiction-Chef Mischa Hofmann, habe er von Anfang an Rückhalt erfahren. "Ich habe mich bei dieser Produktion in dieser Rolle sehr wohl gefühlt", sagt Ertener. "Aber mir ist auch klar geworden, dass wir als Autoren eine Bringschuld haben und noch viel lernen müssen, wenn wir mehr Verantwortung einfordern." Wünschenswert sei für die Zukunft eine noch klarere Festlegung der Hierarchien und Entscheidungsstrukturen. In letzter Konsequenz solle der produzierende Creator "auf einer Stufe mit dem Produzenten" stehen.

Dass das kein allgemein verbindliches Ziel für alle Drehbuchautoren ist, weiß Ertener aus seinem branchenpolitischen Engagement im Vereinsvorstand von Kontrakt 18, genauer gesagt: aus zahllosen Gesprächen rund um den angestrebten Zusammenschluss von Kontrakt 18 mit dem Verband Deutscher Drehbuchautoren (VDD). "Es gibt viel mehr Kollegen, die das gar nicht wollen, als ich gedacht hatte", so Ertener über die produzentischen Ambitionen. "Und das ist ja auch völlig legitim." Eine Art Speerspitze der deutschen Autorenschaft um Kristin Derfler, Annette Hess, Volker A. Zahn und Ertener hatte 2018 mit dem öffentlichkeitswirksamen Kampf begonnen, ihr vertraglich verbrieftes Mitspracherecht auszudehnen: gemeinsame Entscheidung über die Regie-Besetzung, keine unautorisierte Drehbuchbearbeitung, Teilnahme an Leseproben, Vorlage von Mustern und Rohschnitt, namentliche Nennung bei der Promotion – all das in Form einer Selbstverpflichtung.

"Ich finde, wir können mit unserer Zwischenbilanz nach vier Jahren echt zufrieden sein", so Ertener. "Die sechs Punkte aus unserer Selbstverpflichtung sind heute fast überall Standard und wir sehen: Es funktioniert." Kein Wunder also, dass der Vorstand des weitaus größeren und mitunter eher zahnlosen VDD Anfang des Jahres engeren Kontakt zur Kontrakt-18-Spitze suchte, um ein mögliches Zusammenrücken auszuloten. Ehe man sich in monatelange Verhandlungen und gemeinsame Arbeitsgruppen zur Neugestaltung des künftigen Verbands begab, definierten die Kontraktler eine Mindestvorgabe: Ihre Selbstverpflichtung soll fortan für alle Mitglieder gelten, auch wenn natürlich niemand gezwungen wird, das Mehr an Verantwortung tatsächlich in Anspruch zu nehmen.

Noch könnte der Zusammenschluss theoretisch scheitern, doch Ertener ist optimistisch gestimmt: "In unseren Gesprächen und Arbeitsgruppen mit dem VDD spüre ich eine erfreuliche Aufbruchsstimmung aus der Mitte der Mitglieder heraus. Es wäre wirklich schön, eine starke, geeinte Vertretung der Autorenschaft zu haben." Noch im November sollen die Ergebnisse der Arbeitsgruppen auf beiden Seiten mit allen Mitgliedern geteilt werden, im Februar könnten dann fornale Beschlüsse fallen. "Ein Vorstandsamt strebe ich im neuen Verband nicht mehr an", sagt der 56-jährige Ertener. "Das sollen jetzt mal jüngere Kollegen machen."

"Neuland", ab sofort in der ZDF-Mediathek, sowie am 27. und 28. Dezember um 22:15 Uhr im ZDF.

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