Ortswechsel können räumliche Veränderungen sein oder Statements – gelegentlich gar unfreiwillige. Wenn der wichtigste Branchentreff des hiesigen Dokumentarfilms vom neoklassizistischen Meistersaal ins benachbarte Haus des Rundfunks zieht, wo Joseph Goebbels bis zum zerbombten Endsieg ebenden propagierte, klingt das folglich – bewusst oder nicht – nach einem Schritt zurück. Braune Vergangenheit auf dem Weg in die Zukunft? Irgendwie bäh und doch kein Widerspruch.

Schließlich durchweht das Berliner Bauhaus-Gebäude eine Aura der Unverwüstlichkeit, die selbst Naziterror, Abrissbirnen, Bombardements unbeschadet überstehen half. Und da ist es vielleicht nicht der beste, aber bessere Platz als am Potsdamer, ein Medium zu würdigen, das mit unerschütterlicher Liebe um Aufmerksamkeit der Multioptionsgesellschaft ringt. Nämlich Dokumentarfilme und -serien oder im Duktus der ARD: TopDocs.

So umschreibt das Erste Sinn und Zweck einer Gala, die nach zehn Jahren Meistersaal zum RBB gezogen ist, also dort Zweiteinweihung feiert. Und bei Sekt, Bier, Schorle zeigt ein Blick ins Foyer schon vorm Anpfiff: das mutmaßliche Nischenthema lockt viele in den eigenen Saft. Der nebenamtliche Dokumentarist Eckart von Hirschhausen ist gekommen und sein hauptamtlicher Kollege Eric Friedler, der ARD-Vorsitzende Kai Gniffke im ICE aus Stuttgart und seine Berliner Funkhauschefin Katrin Vernau zu Fuß von nebenan.

ARD TopDocs © ARD
Es ist jetzt kein Promi-Schaulaufen, aber von Intendanz bis Moderation will sich doch ein kleines Who-is-Who der Szene auf das zuprosten, was die geborene Conférencière Siham El-Maimouni mit dem Schmusewort „Mashallah“ umschreibt, das sich für all die Almans im Saal nur schwer übersetzen lässt, aber irgendwas mit Freude zu tun hat. Freude über 100 Jahre Radio, die im Herbst an gleicher Stelle gefeiert werden. Freude übers Post-Covid-Live-Event, dem der Zeitgeist das „of the“ und die Leerzeichen nahm. Freude über eine Verdreifachung der TopDocs nach Leipzig und München Richtung Sommer plus 300.000 Euro Förderpreis.

Dazu Freude über zuletzt 17.410 erstausgestrahlte Minuten, 18 Stunden mehr als 2021, begleitet von 3,3 Millionen Netzabrufen für „Being Jan Ulrich“. Freude, Freude, Freude also, wenngleich sie – wir sind hier im historischen Trakt vom Trümmerfeld RBB – alles andere als ungetrübt ist. Schließlich hat sich die öffentlich-rechtliche Legitimationskrise so sehr in globale Existenzkrisen verkeilt, dass Katrin Vernaus Begrüßungsrede nicht nur wegen ihres mangelnden Charismas ein bisschen nach Eduard Zimmermann klingt: Aktenzeichen XY, Missstände ungelöst.

TopDocs © RBB/Thomas Ernst ARD-Chefredakteur Oliver Köhr, ARD-Vorsitzender Kai Gniffke und Moderatorin Siham El- Maimouni.

Nachdem der aufgestiegene „Tagesschau“-Veteran Giffke Dokumentationen als „Kern und Königsdisziplin“ feiert, mit denen seine Arbeitsgemeinschaft die „Komplexität der Welt verstehbar machen“ möchte, erinnert ihn Sandra Maischberger folglich als eine von zehn Produzent:innen per Video daran, dass A vor RD endlich ernster zu nehmen, also mit als gegeneinander zu agieren. Mehr Teamgeist also fordert die produzierende Talkshowgastgeberin und weiß das Kollegium an ihrer Seite, dem vieles offenbar zu wenig ist.

Mehr Mut und Geld, mehr Zeit und Streit, mehr Autonomie und Unterstützung, mehr Diversität, Rechte, Leidenschaft, Vertrauen, Demut, Vielfalt, Streit, Spaß, Inflationsausgleich und was den formell wie finanziell Federführenden noch so alles einfällt, den Kampf um Publikum und Personal gegen Streamingdienste zu gewinnen. Das passende Programm dafür, so deuten es die hochwertigen Teaser auf Großbildleinwand an, wäre vorhanden.

Die Sendezeit spielt keine Rolle mehr?

Ob DDR- („My Generation“) oder NS-Geschichte („Kinder der Flucht“), Geschlechter- („Der tödliche Unterschied“) oder Beziehungsfragen („Paartherapie“), Finanz- („Das Milliardending“) oder Diktaturenkritik („Die China-Falle“), König Charles („Der King“) und Zuckerberg („Die Machtmaschine“) – dokumentarisch grast die ARD mehr soziokulturell relevante Themen ab als die krimisüchtige Fiktion und schafft es mit David Beltons Experiment „Stimmen aus dem Krieg“ sogar, aus der Masse an Berichten über Putins Menschheitsverbrechen hervorzustechen.

Pünktlich zum Jahrestag des russischen Überfalls, läuft zur – nein, nicht besten Sendezeit, sondern um 23.05 Uhr, aber dann in der Mediathek – ein so bedrückendes wie eindrucksvolles Zeitdokument. Zwölf Monate ist der britische Regisseur durch die Ukraine gereist und hat Frauen vor Ort gebeten, allein mit sich und der Kamera vom Leben unter Beschuss zu erzählen. Anders als 17 saftige Tierdokus am Montag ein Ereignis von bleibendem Wert. Wobei man das mit Flora und Fauna keineswegs unterbewerten sollte.

Die Begeisterung, mit der Thomas Behrend „Erlebnis Erde: Unsere Meere“ vorstellt und 500 Tauchstunden in trüber Nordostsee zur erhellenden Horizonterweiterung erklärt, lässt das Glück seiner Zunft spüren, die Welt zu zeigen, wie sie ist: unerschöpflich, unermesslich, nur leider nicht unverwundbar. Umso netter, dass die SWR-Reihe „Wir können auch anders“ mithilfe prominenter Presenter von Anke Engelke bis Bjarne Mädel versucht, der Klimakrise mit Optimismus zu begegnen oder wie Regisseur Lars Jessen sagt: „Wir sind Geschichtenerzähler, wollen aber auch handlungswirksam sein.“

Wo sie das – analog, digital, zugleich, exklusiv – sind, scheint dabei zusehends gleichgültig zu werden. Wenn Kai Gniffke beteuert, „die Sendezeit spielt keine Rolle mehr“, könnte man zwar durchaus mal nachfragen, warum er nicht mal „Tatorte“ ins Netz stellt und Sonntag um 20.15 Uhr, sagen wir: den NDR-Vierteiler „HipHop – Made in Germany“ zeigt. Aber Online-only-Formate haben ja auch wieder das, was „platform promoting content“ heißt: Inhalte, die der Mediathek nötigen Nachwuchs bescheren.

Inhaltlich, erklärt Online-Koordinator Jonas Schlatterbeck DWDL, setzt seine Mediathek nämlich „auf Themen und Protagonist:innen, die Anknüpfungspunkte im Leben jüngerer Menschen aufweisen“ und „starke Geschichten, die sich jenseits des linearen Fernsehens über soziale Medien verbreiten“. Und in einer perfekten Welt strahlt das wahrscheinlich sogar aufs Lineare ab. Auf so viel win-win-win beim anschließenden Get-together (nach oberflächlicher Betrachtung) Currywurst für Herren, Falafel für Damen, Alkohol für alle und die Hoffnung, TopDocs sei mehr sind als Pfeifen im Walde einer komplizierten Branche. Mashallah!

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