Diese Telegeschichte beginnt am 4. März 2012 auf dem Spartenkanal ZDFkultur. An diesem Abend läuft die erste Ausgabe der neuen Reihe "Roche & Böhmermann". Eine Talkshow "ganz im Stil des frühen Fernsehens, nur neu gemacht", soll es werden. Daher dürfen die Gäste währenddessen rauchen und Alkohol trinken. Sie sprechen in sperrige Mikrofone, die auf dem großen, runden Tisch in der Mitte platziert sind. Alles ist in dunklem Schwarz gehalten. Als einzige sichtbare Dekoration prangt über dem Tisch eine große ringförmige Lampe. Die Szenerie erinnert eher an einen Bunker, in dem sich mächtige Männer für eine Verschwörung treffen, als an eine moderne Fernsehshow.
In diesem Rahmen empfangen die beiden Gastgeber:innen Charlotte Roche und Jan Böhmermann den Musiker Sido, die Politikerin Marina Weisband, den Choreografen Jorge González, den Fotografen Sven Marquardt und die TV-Moderatorin Britt Hagedorn. Sie sitzen zwar von Beginn an am Tisch, werden jedoch erst nacheinander durch einen launigen Einspielfilm vorgestellt.
Nach rund 45 Minuten ist Britt Hagedorn dran, die damals vor allem für ihren Daily Talk "Britt" in Sat.1 bekannt ist. Mit seiner markanten Stimme trägt Sprecher William Cohn ihre Einführung vor: "In der Sendung der Frau ohne Nachnamen wünschen sich Menschen mit schlechten Zähnen, die nicht wissen, wo bei authentisch die beiden Hs hinkommen, gegenseitig auf den Lügendetektor. Bestenfalls. Gerne lässt die 40-jährige studierte Kulturwissenschaftlerin Britt Hagedorn auch einfach mal nur möglichst adipöse Halbdebile minutenlang zu Autoscooter-Techno strippen." Was für ein Einstieg.
Anders als bei den übrigen Gästen schlägt Böhmermann bei ihr von Beginn an einen spürbar anderen Ton an. Anstatt mit ihr über kleine Anekdoten zu sprechen, will er sie offenbar überrumpeln: "Du hast ja vornehmlich Assis in der Sendung", steigt er ein. Hagedorn pariert diesen ersten Angriff, indem sie sich selbst eine gewisse Derbheit zuspricht. Sie betont, sich nicht für die schlechten Zähne ihrer Gäste zu interessieren, sondern für die Menschen dahinter. Ein erwartbarer Konter.
"Wieso beleidigst du die denn so?"

Als Gegenargument führt sie den "Code of Conduct" ein und erläutert: "Der sogenannte ‚Code of Conduct‘ sieht vor, dass Menschen, die am Rande zur geistigen Behinderung stehen und damit nicht mehr in der Lage sind, selbstreflektierte Entscheidungen zu treffen, gar nicht vor eine Kamera gezogen werden dürfen."
Kurze Randnotiz: Diese Vereinbarung wurde im Jahr 1998 unter den privaten Rundfunkveranstaltern getroffen, als die nachmittäglichen Talkshows zunehmend ins Schmuddelfernsehen abdrifteten. Bereits wenige Monate später stellte die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) jedoch fest, dass die Verhaltensgrundsätze in der Praxis kaum noch beachtet wurden.
Zurück zur Diskussion zwischen Hagedorn und Böhmermann. Weiterhin steht die Frage im Raum, ob in Britts Flirtsendung "Menschen, die am Rande der geistigen Behinderung stehen" vorgeführt werden. "Wie wird das denn getestet?", hakt Charlotte Roche ein, die das Gespräch bislang sichtlich amüsiert verfolgt. "Das ist eine hochinteressante Frage", antwortet Hagedorn. "Es wird schlicht und ergreifend geguckt, ob die Leute ganz normal mit dir reden können. Und wenn du das Gefühl hast, da kann jemand noch reflektieren, ist das gut."
"Musste mich hinterher vier Stunden unter die Dusche stellen"
Es ist schnell absehbar, dass sich Britt Hagedorn von Jan Böhmermann weder in die Ecke drängen noch zu einer Distanzierung von ihrer eigenen Arbeit bewegen lässt. Der junge Moderator will sich trotzdem nicht geschlagen geben. Seinen nächsten Versuch beginnt er mit einer Selbstoffenbarung: "Ich bin ein riesiger Fan von ‚Schwiegertochter gesucht‘ und habe gedacht, dann finde ich bestimmt auch ‚Schwer verliebt‘ gut. Aber ich musste mich hinterher vier Stunden unter die Dusche stellen und sauber machen, weil ich das vor mir selbst nicht verantworten kann – und das will was heißen." Einen klaren Vorwurf formuliert er nicht, seine Hilflosigkeit wird derweil immer deutlicher.
Erst am Ende bringt er wenigstens den Ansatz eines fundierten Arguments: "Ihr stellt bloß, dass Leute den Wunsch nach einer Partnerschaft haben. Und Ihr kreiert Situationen, in der zwei Menschen, die offensichtlich nicht miteinander auf einem Bett sitzen wollen, auf ein Bett zusammensetzt. Das filmt ihr und guckt, wie sie versuchen, sich anzufassen. Und natürlich sieht das peinlich und lustig aus. Und das ist der Grund, warum Ihr das macht."
Da Böhmermann nicht konkreter wird, kann Hagedorn den Ball leicht zurückspielen: "Dass die nicht zusammen auf einem Bett sitzen wollen – wer hat dir das gesagt?" – "Das war jetzt ein Fallbeispiel", räumt er kleinlaut ein. Woraufhin Britt nachlegt: "Glaubst du ernsthaft, dass Redakteure sich da hinsetzen und sagen: ‚Setz dich mit dem auf ein Bett‘? Was denkst du, was wir für Daumenschrauben haben?" Eine gute Frage und ein gar nicht so willkürlich gewähltes Fallbeispiel, wie sich im Laufe dieser Telegeschichte noch herausstellen wird.
In seiner Talkshow geht Böhmermann auf die Gegenfrage nicht ein. Stattdessen sucht er den Ausweg aus der unangenehmen Lage: "Ich besitze natürlich die Größe zu sagen: ‚Okay, dann habe ich mich vielleicht geirrt.‘ […] Dann ziehe ich die Wortmeldung zurück und behaupte, das sind gute Sendungen." Danach lässt er die bisherige Aufzeichnung bis zum Vorstellungsfilm von Britt (für das Fernsehpublikum sichtbar) zurückspulen und beendet sie schließlich. In einer Nachbesprechung, die ebenfalls Teil des Konzepts ist, gesteht er im Zwiegespräch mit Charlotte Roche reumütig: "Ich werde nie wieder Gäste angehen, nur weil ich mir vorher vorgenommen habe, es zu tun. Das macht keinen Sinn."
"Demütigungsfernsehen"
Obwohl Jan Böhmermann in der Auseinandersetzung keine gute Figur abgab, hatten seine Einlassungen durchaus ihre Berechtigung. Vom ersten Tag ihrer Ausstrahlung stand die Sendung "Schwer verliebt" heftig in der Kritik – und zwar genau für die Punkte, die er gegenüber Britt Hagedorn ansprach. Bloß war er nicht gut genug vorbereitet, um die erfahrene Moderatorin wirklich packen zu können. An Material dafür hätte es nicht gefehlt.
Was Hagedorn im Gespräch als seinen subjektiven "Eindruck" abtat, hatten viele andere Journalist:innen vor ihm ähnlich formuliert. Daniela Zinser stufte die Reihe im "Spiegel" beispielsweise als "Demütigungsfernsehen" ein, das die Teilnehmenden "entwürdigt" und in dem "ganz normale Menschen" zu "Freaks gemacht werden". Antje Raupach sprach in der "Berliner Morgenpost" ebenso von einer "Freakshow". Die "Nürnberger Zeitung" erkannte in ihr eine "perfide Vorführung" von Personen, von denen manche "womöglich eher ärztliche Hilfe als einen Partner" bräuchten. Und die "Süddeutsche Zeitung" beklagte, dass in solchen Programmen "reihenweise Mitbürger verheizt" würden, "die eigentlich unseren Schutz verdient hätten."
"Mit Herz und Hüftgold"
Als sogenannte Kuppelshow definierte sich die Produktion "Schwer verliebt". Dem ursprünglich aus Österreich stammenden Konzept lag eine vertraute Anordnung zugrunde. Ein gutes Dutzend Singles wurde in einer Auftaktepisode vorgestellt, für die sich interessierte Zuschauende bewerben konnten. Jeweils zwei von ihnen wurden in das häusliche Umfeld der Kandidat:innen eingeladen. Nach einem kurzen Kennenlernen entschieden sich die Singles jeweils für eine Begleitung, mit der sie eine Woche verbringen wollten. Ein Kamerateam dokumentierte die Momente ihrer zaghaften Annäherung.
Britt Hagedorn fungierte als Gastgeberin und Erzählerin aus dem Off. Die ersten Junggesellen und Junggesellinnen wurden am 3. Juli 2011 vorgestellt. Die daran anschließende reguläre Staffel mit zehn Ausgaben startete am 6. November 2011 und war sonntags um 19.00 Uhr in Sat.1 zu sehen.
Das Alleinstellungsmerkmal des Formats bestand darin, dass es übergewichtige Personen in den Mittelpunkt der Partnersuche rückte. Von "Pfundskandidaten" mit "kleinen Pölsterchen" oder von Menschen mit "Herz und Hüftgold" sprach die Moderatorin in ihren Texten betont liebevoll, um das inhärente "Fat-Shaming" zu verschleiern. Offiziell rechtfertigte sie die gehässige Grundidee damit, dass das Programm eigentlich ein Unterstützungsangebot für "mollige Menschen" sei. Sie hätten es ja besonders schwer, die Liebe ihres Lebens zu finden. "Wegen ihrer Pfunde trauen sich viele nicht, über ihren Schatten zu springen und ihren Schwarm anzusprechen. Aber damit ist jetzt Schluss", versprach sie beim Start in die Kamera.
Ein Fingerzeig darauf, wohin die Reise wirklich ging, bot die Eröffnung jeder Ausgabe. In einer kurzen Einstellung begrüßte Hagedorn das Publikum mit den Worten: "Die nachfolgende Sendung präsentieren wir Ihnen in 16:9-Breitbild." Hierbei schob sie mit den Armen die schwarzen Balken des Bildformats unter quietschendem Geräusch auseinander. Dicke brauchen schließlich mehr Platz, um ins Bild zu passen.

Bei der Zusammenstellung der Teilnehmenden entschied sich die Redaktion auffallend oft für Menschen, die aus bildungsfernen und sozialschwachen Milieus zu kommen schienen. Dass dies Entscheidungskriterien waren, wies der Sender natürlich von sich. Stattdessen betonte Sprecherin Diana Schardt in einem Statement: "Für uns war wichtig, dass sie authentisch sind – und die Hoffnung auf eine neue Liebe noch nicht aufgegeben haben." Aha.
"Aber bitte mit Sahne"
Die Auserwählten wurden vor allem anhand ihrer abseitigen Hobbys oder ihrer Sammelleidenschaften voneinander unterschieden. Zudem wurden kleine Schrullen, Gewohnheiten oder Vorlieben zum Wesenskern der Kandidat:innen stilisiert. Versehen mit vermeintlich sympathischen Adjektiven erhielten sie auf diese Weise alle ihre jeweiligen Zuschreibungen verpasst. So gab es den "fröhlichen Flötenspieler", "den treuen Trödelfreund", "den einsamen Kirchgänger", "den ehrenamtlichen Gassigeher" oder "den sanften Schneekugelsammler".
Ein solches Vorgehen war auch aus anderen Formaten bekannt. Insbesondere "Bauer sucht Frau" und "Schwiegertochter gesucht" dienten unübersehbar als Vorbilder. Doch bei "Schwer verliebt" trieb die Redaktion das Prinzip erkennbar auf die Spitze. Die musikalische Untermalung geriet mit Songs wie "Aber bitte mit Sahne" niederträchtig, die Absurdität der Inszenierungen fast bösartig. Sitzpolster wackelten, wenn die Teilnehmenden sich darauf niederließen. Die Zeichnung einer naiven Sexfantasie zwischen zwei Barbie-Puppen wurde minutenlang genüsslich ausgeschlachtet.
Die Singles wurden nackt in der Badewanne mit Quietscheentchen, beim Schwimmen (inklusive Bauchklatscher) oder bei der Massage (natürlich mit flüssiger Schokolade als Öl) gefilmt. Sie gaben gestelzte Ansagen von sich, verschickten unbeholfene Kussgesten in die Kamera und mussten unentwegt essen. Klar, durchweg ungesund, fleischhaltig und süß. Erdbeeren dick mit Zucker bestreut, Würstchen, Buletten, Döner oder am besten Nutella direkt aus dem Glas. Wie es Dicke eben so machen.
Auf diese Weise zeichnete die Show etwa das Bild eines 47-jährigen Mannes, dem seine Mutter die Haare kämmte und der vor allem wissen wollte, ob die potentiellen Partnerinnen einen Führerschein besaßen. Ein anderer, der mithilfe der Sendung einen Mann suchte, musste sich zunächst vor seinem Vater outen. Dieser Schritt war unterlegt mit dem Song "YMCA".
Die Behauptung, dass die montierten Bilder die Protagonist:innen entwürdigen, ließ sich leicht aufstellen. Sie blendete allerdings die Möglichkeit aus, dass diese vielleicht Gefallen an ihrer Darstellung fanden und sich über die daraus resultierende Aufmerksamkeit freuten. Ähnliche Phänomene waren längst aus Castingshows und anderen Reality-Formaten bekannt. So schwer es manchmal fällt, das einzusehen – es gibt Menschen, die sich bewusst lächerlich machen, um gesehen zu werden. Nicht selten empfinden sie ihr Verhalten gar nicht als Lächerlichkeit. Selbst bei "Schwer verliebt" gab es zwei Singles aus der ersten Staffel, die offenbar kein Problem mit ihrer Darstellung hatten und im zweiten Durchlauf wieder antraten.
Doch der Fall "Schwer verliebt" birgt eine besondere Brisanz in sich. Für sie lohnt es sich, die Ereignisse von damals noch einmal ausführlich zu rekapitulieren. Die Produktion sah sich nämlich Vorwürfen der Manipulation und der Repression gegenüber ihren Teilnehmenden ausgesetzt. Die schwersten Anschuldigungen kamen von einer Kandidatin, die sogar ihren Vertrag offenlegte und dadurch zum Spielball der Medien wurde.
Was sie dem Team konkret vorwarf, welche mediale Lawine ihre Enthüllungen auslösten und wie fies Sat.1 darauf reagierte, erzählt der zweite Teil dieser Telegeschichte, der am kommenden Samstag erscheint.