Vor einigen Jahren präsentierte RTL bei einer Pressekonferenz in Hamburg eine Vielzahl neuer Serienprojekte, so umfassend, dass anwesende Journalistinnen und Journalisten zunächst verblüfft waren von der Offensive. Doch noch während der Präsentation fiel die aufgebaute Überraschung in sich zusammen als man ergänzte: Alle Serien haben eine gewisse Tonalität und Heiterkeit. Diese Uniformität - und das war eben die fatale Priorität - mag Werbekunden vielleicht ein durchgängiges Umfeld versprechen, überzeugte aber am Ende die Zuschauerinnen und Zuschauer bei den meisten dieser Serien nicht. Nach großen Ambitionen mit "Deutschland 83" einerseits und der seichten Mainstream-Offensive andererseits lag die RTL-Fiction weitgehend brach. Hatte man nicht alles probiert? 

Im Frühjahr 2021 setzte Hauke Bartel den finalen Schlussstrich unter einige noch verbliebene Projekte jener Zeit. "Auf Umbruch folgt Angriff", erklärte der Fiction-Chef von RTL Deutschland im April diesen Jahres im DWDL.de-Interview. Angesichts so manches erklärten Neuanfangs war die Skepsis erwartungsgemäß groß. Seit Anfang 2020 verantwortet er die Fiction-Strategie über alle Angebote der Gruppe hinweg, zunächst zusammen mit Kollegin Frauke Neeb, die jetzt als Programmdirektorin des Streamingdienstes agiert. Dort liefen übrigens kleine Köstlichkeiten wie "Unter Freunden stirbt man nicht" und "Tilo Neumann und das Universum" leider trotz sehr prominenter Besetzung weitgehend unter dem Radar.

In diesem Herbst liefen dann aber alle Fäden zusammen, die für den großen Aufschlag sorgen: Das Rebranding des Streamingdienstes und die Fertigstellung einiger hochkarätiger Produktionen. Beim Festival Canneseries machten RTL+ und Fictionchef Hauke Bartel im Oktober den großen Aufschlag mit der Weltpremiere von "Sisi" einerseits und der Ferdinand-von-Schirach-Serie "Glauben" im offiziellen Wettbewerb andererseits. Letztere gewann sogar gleich zwei Preise. Doch es ist nicht die PR-wirksame Inszenierung dieser Fiction-Offensive des gerade gerelaunchten Streamingdienstes, die überzeugt - es sind die Serien selbst. Mit den beiden erwähnten Produktionen - einer überzeugenden Neuinterpretation von "Sisi" und dem drängend-unbequemen "Glauben" - sowie der Serie "Faking Hitler" gelingt RTL+ ein beeindruckender Dreiklang empfehlenswerter fiktionaler Produktionen.

Ob diese im kostenpflichtigen Streamingdienst die verdiente Aufmerksamkeit bekommen, steht auf einem anderen Blatt. Inhaltlich aber demonstrieren die drei Serien einen neuen vielfältigen Ansatz. Einmal in der Form: Eine originäre TV-Serie (die erste von Ferdinand von Schirach direkt fürs TV geschriebene Story), eine Neuinterpretation einer bekannten Marke und einmal ein geschichtliches Ereignis als Anker. Auch im Genre sind sie unterschiedlich: "Sisi" und Schirachs "Glauben" bedienen beide den Mainstream, aber ganz sicher mit nicht deckungsgleichem Publikum. Diese Serien eint also wenig und doch passen sie gut zusammen, ergeben ein starkes LineUp und prägen den Relaunch von RTL+, was insofern bemerkenswert ist, dass man unter der Marke TVnow sehr viel Reality TV in den Mittelpunkt gestellt hat.

Nicht so in diesem Herbst. Für den aus Unternehmenssicht so wichtigen Neustart von RTL+ sind es drei Serienprojekte, die punkten sollen - umso gewichtiger die Rolle von Fiction-Chef Hauke Bartel (Jahrgang 1985), der erst 2014 sein Studium an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf mit einem Master of Arts abschloss, dann über Vox zur Mediengruppe RTL Deutschland kam und 2017 dortiger Fiction-Chef wurde. Den Erfolg von "Club der roten Bänder" dort zu wiederholen gelang ihm nicht. Im Schatten vom fiktional glücklosen RTL eine eigene Handschrift für Vox zu entwickeln, war jedoch eine sowohl Genre- als auch Budget-technisch eingeschränkte Aufgabe. Überzeugend war damals jedoch schon seine Begeisterung für Ideen und Bücher, verbunden mit einer unprätentiösen Zusammenarbeit, von der Kreative und Produzenten damals schon angetan waren. 

Das führt u.a. dazu, dass ihn neben großen Flaggschiffen auch kleine Ideen wie etwa  "Keine besonderen Vorkommnisse" begeistern können, eine aus dem Ausland gekonnt adaptierte, charmante Comedyserie. Die schräge Produktion mit der Handschrift von Lutz Heineking Jr. hätte früher nun wirklich zu keinem Sender der Gruppe gepasst, erfüllt jetzt aber bei TVnow bzw. RTL+ eine wichtige Aufgabe. Es demonstriert Abonnentinnen und Abonnenten gegenüber eine große Bandbreite und etabliert den Streamingdienst als Heimat für fiktionale Produktionen, egal ob groß oder klein. RTL kann Big Budget, will aber mehr als das. Und genau das hat auch wieder eine enorme Strahlkraft in Richtung kreativer Community: Die gute Idee zählt, dann kann es auch schnell gehen. Die erste Staffel "KBV" ging im Februar diesen Jahres online, die zweite Staffel schon im November. 

Es ist der einfache Zugang und die Offenheit für Ideen, die immer wieder gelobt werden, wenn man über Hauke Bartel spricht. Unkompliziert sei das Miteinander. Dass natürlich keine Fiction-Strategie der Welt allein umgesetzt werden kann, ist selbstverständlich: Einerseits ist es der Austausch mit der vertrauten Kollegin und RTL+-Programmdirektorin Frauke Neeb, andererseits die Rückendeckung durch Henning Tewes, Geschäftsführer RTL und RTL+. Aber auch im Teamsport gibt es einen Kapitän und in Sachen Fiction bei RTL ist das mit einer inhaltlich starken Bilanz für 2021 Hauke Bartel, einer unserer Bildschirmhelden des Jahres. Hausaufgaben gibt es trotzdem noch genug, denn was inhaltlich überzeugt, funktioniert in der Free-TV-Verwertung noch lange nicht automatisch.