Im Dienste der Forschung muss Wissenschaft auch mal ungewöhnliche Wege gehen: Wer beispielsweise das Balz- und Paarungsverhalten der Gen Z zu studieren plant, findet zu diesem Zweck wenig Anschauliches in Bibliotheken – aber umso umfassenderes Bewegtbildmaterial in den Streaming-Diensten der beiden großen deutschen Privatsendergruppen.

Tut mir echt leid, aber da müssen wir jetzt kurz gemeinsam durch.

RTL+ zum Beispiel hat mit "Swipe, Match, Love? Realitystars im Datingfieber" gerade zum "großen Baggerrennen quer durch ganz Europa" bzw. zum "härtesten Datingwettbewerb der Welt" gerufen, bei dem die teilnehmenden "Brudis" und Schwestern im Geiste in Zagreb, Athen, Cannes und Lissabon per App so viele Dates wie möglich klar machen müssen, um die meisten Punkte zu sammeln und die Show zu gewinnen. Und weil die allermeisten Teilnehmer:innen schon an vergleichbaren Formaten beteiligt waren ("Ich glaub, man kennt uns dann auch"), lästert der Sprecher zwischendurch selbstzufrieden: "Da haben wir doch mal'n Pool vom Feinsten versammelt."

Protzparade der guten Laune

Die stolz als Eigenentwicklung präsentierte Protzparade ist eine wahnsinnig trashige, aber sehr gut gelaunte Einladung, sein Hirn für 45 Minuten auszuschalten, um den deutschen "Leistungsträgern der Reality" – unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung – dabei zuzusehen, wie sie das machen, was sie am besten können: sie selbst sein.

Swipe, Match, Love - Realitystars im Datingfieber © RTL Endlich Realitystars beim Einrichten ihrer nagelneuen Datingprofile zusehen: "Swipe, Match, Love?"

Ein "Oh my God" jagt das nächste, "Die Jagd ist eröffnet", "Wer flirtet wie ein Champion?", "An der Küste gibt es viele Brüste", "Wir werden durchgrindrn, was das Zeug hält", "Hardcore-Daten bis zum Anschlag" und die ewige Furcht vor der Konkurrenz: "Der nimmt sie, leckt sie, und stößt sie ab wie am Fließband!" Gleich nach Folge eins fliegt das erste Team per Vier-Sekunden-Ausschnitt hochkant aus der Show, weil es entgegen aller Ansagen auf den eigentlich einkassierten Privathandys rumgedaddelt hat. (Hier sind Spielregeln noch etwas, an das man sich zu halten hat!) Zwischendurch bringt's die Verbalbetreuung aus dem Off auf den Punkt: "Zwei Wochen durch ganz Europa baggern: das ist doch besser als einen anständigen Beruf zu haben."

Swipe, Match, Love - Realitystars im Datingfieber © RTL Besser als ein richtiger Beruf, aber auch nicht weniger anstrengend: Dauerbaggern im Auftrag von RTL.

Aber auch nicht weniger anstrengend. Schließlich muss die Reality-Prominenz vorher hart erworben worden sein, etwa beim ebenfalls von RTL+ gerade in die vierte Staffel geschickten "Are You The One?", einer Art FKK-affinem "Herzblatt" auf Speed, bei der Sophia Thomalla flotte Texte von Moderationskärtchen auswendig lernt, um wie im neuen Staffelintro über den Austragungsort in der griechischen Ägäis zu wortreimen: "Jetzt wird aus Paros wieder Pornos. Und ich? Mach einen auf Aphrodite!"

Charakter? Auf jeden Fall bezaubernd

Die Teilnehmer:innen des auf nackte Haut und durchgenudelte Anmachsprüche ("Du hast schöne Zähne!") konzentrierten Spektakels müssen innerhalb der vorgegebenen Zeit durch beschleunigtes Anschmusen herausfinden, wer ihr vorher von Expert:innen festgelegtes "Perfect Match" ist. Wenn's gelingt, regnet es für alle 200.000 Euro. Und wenn nicht? Auch egal, der Weg ist das Ziel.

Um Bescheidenheit zu proben oder sich erst noch selbst zu finden, ist "AYTO" in jedem Fall der falsche Ort, die allermeisten Teilnehmenden sind durchweg bereits gefestigte Persönlichkeiten: "Ich bin eher so der Gewinnertyp", "Ich hab ein flirtiges Gesicht", "Ich hatte schon Frauen im dreistelligen Bereich", "Meinen Charakter würde ich auf jeden Fall als bezaubernd beschreiben" – aber abgehoben ist trotzdem fast niemand, denn: "Ich schau mich gerne tagsüber mal im Spiegel an, aber absolut im normalen Rahmen."

Manche sind "völlig ready, um hier zu heiraten", doch die allermeiste Zeit läuft es erst mal auf eine paar gemeinsame Stunden in der mit Nachtsichtkameras ausgestatteten "Boom Boom"-Suite heraus, vor die RTL+ eine Challenge gesetzt hat, bei der gemeinsam Zahlencodes vom Stileis gelutscht werden müssen, damit die Schnellsten ein Zweier-Date miteinander verbringen können, bei dem sie sich zum besseren Kennenlernen gegenseitig die Oberweite eingipsen, bis Thomalla nach einem anstrengenden Arbeitstag ankündigt: "Ich geh jetzt zurück in meine Garderobe und mach mir'n Wein auf." (Nichts davon ist erfunden, ich schwöre.)

Eine beachtliche Format-Schlagzahl

Das sind nur zwei aktuelle Beispiele, die aber kaum anschaulicher demonstrieren könnten, welche Auswüchse die Flut vermeintlicher Dating-Formate bei den beiden Reality-Schleudern RTL+ und Joyn inzwischen angenommen hat. Vor allem in Köln ziert man sich schon lange nicht mehr, am Fließband herzustellen, wonach die ablenkungsaffine Zielgruppe giert.

Auf die "Couple Challenge" folgt eine neue Staffel von "Temptation Island VIP", auf "The Real Life" und "Ex on the Beach" eine neue Runde "Are You The One?", dazwischen läuft "Prince Charming", "Prominent getrennt" oder "Bachelor in Paradise". Bitte verzeihen Sie mir, wenn ich da ein bisschen den Überblick verloren habe, seitdem die Dienste auch noch Re-Importe aus Nachbarländern zugänglich machen und man dank Joyn dabei sein kann, wie sich die Ösi-Prominenz vom "Forsthaus Rampensau", eine Art "Sommerhaus"-Klon mit Dschungel-haftem Intro, über Restmülltrennung und Hausregeleinhaltung fürchterlich in die Haare kriegt, um bestätigungssuchend anzumerken: "Ich bin für mich schon ein Sieger, weil ich hier drinnen bin."

Die Schlagzahl, mit der neue Formate samt immer wieder auftauchenden Charakteren produziert werden, ist in jedem Fall – und ganz ohne Ironie – beachtlich.

Ebenso wie ihr offensichtlicher Erfolg, zumindest innerhalb der jeweiligen Portale: Von den zehn meistgesehenen Sendungen bei RTL+ stammten in der vergangenen Woche acht aus dem Reality- bzw. Dating-Genre (unterbrochen nur von "Two and a Half Men" und "Peppa Pig“), allesamt Eigenproduktionen. Das dürfte für die Dienste schon deshalb ein gewichtiges Argument sein, weil sich damit offensichtlich ein zahlendes oder zumindest mit bezahlten Spots bewerbbares Publikum anlocken lässt.

Schwächephase im Linearen

Gleichzeitig hinterlässt das Überangebot an Trash TV aber seine Spuren im und am linearen Programm – und zwar nicht, weil die von den Streamern stolz online first präsentierten "Originals" auch im klassischen Fernsehen einen solchen Wumms entfalten würden. Eher im Gegenteil. Es ist sogar noch ein bisschen schlimmer, seitdem sich abzeichnet, dass die Reality-Kaskade im Nonlinearen tendenziell eher einen negativen Effekt auf die traditionellen Ausspielwege zu haben scheint.

Zumindest präsentiert sich das Genre, anders als seine programmfüllenden Vertreter:innen, derzeit nicht gerade in allerbester Verfassung.

Nach dem Start Mitte November hatte "Promi Big Brother" in Sat.1 zuletzt arge Mühe, überhaupt noch über 10 Prozent Marktanteil in der jüngeren Zielgruppe zu kommen – wenige Tage vor dem Finale am Mittwoch scheint sich die Show ein Stück weit gefangen zu haben; und es ist gut möglich, dass der Reality-Oldie nächstes Jahr im ausklingenden Sommerprogramm wieder besser aufgehoben ist.

Genau dort tat sich in diesem Jahr allerdings bereits "Das Sommerhaus der Stars" von RTL ziemlich schwer damit, an die Erfolge früherer Jahre anzuknüpfen – und stellte trotz halbwegs versöhnlicher Durchschnittsquote ungewohnte Negativrekorde auf.

Schadet zuviel Reality den TV-Dickschiffen?

Der Verdacht liegt nahe, dass die von den Sendern umworbene Zielgruppe inzwischen so umfassend von zeitunabhängig abrufbaren Reality-Formaten versorgt wird, dass es für die allermeisten Fans des Genres schlicht und einfach keine Notwendigkeit mehr gibt, im klassischen TV noch nach weiteren Schätzen zu suchen. (Dass die Klassiker zumindest mit ihren zeitversetzten Streams nochmal abzuräumen wissen, ist da nur ein schwacher Trost.)

Video killed the Radio Star, und vielleicht kannibalisieren die Streamer jetzt einfach ihr Stamm-Genre bei den linearen Geschwistern?

Zumindest deutet derzeit vieles darauf hin: Als Vox im Frühjahr einige Zeit nach der Online-Premiere die zweite Staffel "Princess Charming" ins Spätprogramm holte, war das trotz (oder wegen) mitternächtlicher Ausstrahlung nur ein Ausflug von kurzer Dauer. Bei RTLzwei sah man sich sogar dazu verpflichtet, eine seiner wertvollsten Reality-Programmmarken vor der Abnutzung zu schützen und kündigte im Frühjahr an, wieder zur Ausstrahlung einer einzigen Staffel pro Jahr zurückzukehren, um sich nicht dauerhaft den eigenen Erfolg zu ramponieren. Nächstes Jahr wird sich zeigen, ob "Love Island" genügend eigene Strahlkraft besitzt; oder ob's dem Publikum angesichts der zahlreichen Alternativen nicht ein bisschen egal ist, welche sonnenbeschienene Balzerei es gerade vorgesetzt kriegt.

Eine ernüchternde Erkenntnis

Besonders ernüchternd für die Sender ist: Die vergangenen Monate haben ein für alle Mal den Beweis erbracht, dass der Versuch, das Genre ins Positive zu drehen und entsprechende Gegenentwürfe auszuprobieren, als gescheitert bezeichnet werden muss.

Mit seiner Alternative zum zurecht versenkten Krawalltheater "Promis unter Palmen", dem "Club der guten Laune", ging Sat.1 im Frühjahr sang- und klanglos unter; bei RTLzwei schaffte es das sanftere Töne anschlagende "Let's Love" im Nachmittagsprogramm nicht, das Publikum von seinem seriöseren Dating-Ansatz zu überzeugen; und ProSieben erlebte mit seinem in Kooperation mit Joyn inszenierten "Love is King" gerade ähnliches: nach drei zu schwachen Episoden ging's ab in die Nacht.

Das lässt den Sendern zunehmend weniger Spielraum. Die neuen, ironisch bis süffisant off-kommentierten Realitys der Streamer verfangen beim normalen TV-Publikum ebenso wenig wie gemäßigtere Ansätze; gleichzeitig sinkt das Interesse an einstigen Reality-Dickschiffen von Staffel zu Staffel. Auch wenn sich RTL vermutlich nicht beschweren wird, falls bei der Neuauflage von "Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!" im Januar wieder ein paar Prozentpunkte weniger als bisher unterm Strich stehen, weil die Werte von einst sowieso unerreichbar scheinen. (Es sei denn, "IBES" gelingt dasselbe Kunststück wie dem britischen "I'm a Celebrity", dessen Finale bei ITV gerade über 10 Millionen Menschen sehen wollten.)

Eine Chance für den Nachwuchs

Etwas Gutes könnten die zahlreicher gewordenen Streaming-Formate für die Sender aber doch haben: Weil sie helfen, kontinuierlich den kandidatären Nachwuchs zu generieren, der notwendig ist, um etwa die Lücken zu füllen, die eine schwindende Zahl potenziell verpflichtbarer Altstars in den Reality-Shows reißt. Viele Jahre passierte das quasi automatisch über Casting-Formate wie "Deutschland sucht den Superstar", das jedoch angesichts sinkender Reichweiten und bevorstehender Abschiedsstaffel (vorerst) als Rekrutierungslager ausfallen wird. Hätte, hätte – Verwertungskette.

Untergangssorgen muss man sich deswegen vermutlich keine machen, das Fernsehen hat sich schon immer selbst zu helfen gewusst. Oder um's mit der großen Philosophin Sophia Thomalla zu sagen, die bei "AYTO" regelmäßig wieder "'ne neue hotte Olle" ins Rennen schickt, um das Spiel ordentlich aufzuspicen: "Ich bin immer für 'ne Überraschung gut." Nichts anderes hätten wir erwartet.

Und damit: zurück nach Köln.

Die neue Staffel von „Are You The One?“ startet am Mittwoch bei RTL+, „Swipe, Match, Love?“ läuft dort bereits.