Frau Holzner, was bedeutet es für den HR als viertkleinste – oder sechstgrößte – ARD-Anstalt, dass die erwartete Erhöhung des Rundfunkbeitrags vorerst ausgeblieben ist?

Bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sollen die Mindereinnahmen nicht zu Einschnitten im Programm führen. Das haben wir uns vorgenommen und werden alles tun, um diese Linie zu halten. Zwei wesentliche offene Fragen sind natürlich, wann das Bundesverfassungsgericht entscheiden wird, ob es die Beitragserhöhung in Kraft setzt, und ob die Entscheidung dann rückwirkend gelten wird oder nicht. Jenseits des Programms versuchen wir, geplante Investitionen zu strecken oder zu verschieben. Unabhängig von diesen akuten, ungeplanten und unerwarteten Mindereinnahmen verändern wir unsere Programme und Produkte aber weiterhin und konsequent im Zuge des laufenden Transformationsprozesses. Da werden auch klassische Sendungen im Linearen eingestellt und da werden wir die Hörfunkwellen weiter reformieren.

Generell schichten Sie bemerkenswert viel ins Nonlineare um.

Fürs HR-Fernsehen haben wir die Grundsatzentscheidung getroffen, lineare Formate sehr bewusst nur noch für die Zeitschiene zwischen 16 und 20 Uhr zu entwickeln oder weiterzuentwickeln. Diese Zeitschiene ist fürs Regionale von herausragender Bedeutung und dort sind wir auch erfolgreich, in den letzten Monaten besonders erfolgreich. Konkret heißt das: Die Redaktionen in diesem Korridor zwischen Nachmittagssendung und Hauptausgabe der "Hessenschau" haben den Auftrag, lineare Angebote zu erstellen und erst im zweiten Schritt auch zu überlegen, was davon digital wiederverwertet werden kann. Für alle anderen Redaktionen ist der Fokus genau umgekehrt: Sie erhalten den bewussten Auftrag, neue Formate für die Mediathek zu entwickeln bzw. bestehende im Hinblick auf die Mediathek weiterzuentwickeln. Diese Formate sollen vor allem in der Mediathek performen, sie werden nicht mehr für einen linearen Sendeplatz produziert, sondern der lineare Sendeplatz ist fortan die Zweitverwertung.

Das heißt dann auch, dass Ihre Primetime-Magazine auf On-Demand-Nutzung hin geplant werden und nicht mehr mit dem Gedanken, was um 20:15 Uhr gut läuft?

Richtig. Nehmen Sie als Beispiel unser landespolitisches Magazin "defacto", das zuletzt montags um 20:15 Uhr lief. Da sind wir aktuell in einer spannenden Experimentierphase. Die Redaktion hat nämlich den Auftrag, im ersten Halbjahr fünfmal 45 Minuten für die Mediathek zu produzieren. Der inhaltliche Kern soll so bleiben wie bisher: "defacto" erklärt, wie sich politische Entscheidungen auf Leben und Alltag der Menschen auswirken. Aber die Erzählweise muss sich natürlich verändern, denn in der Mediathek guckt sich kaum jemand multithematische Magazine an. Da ist es jetzt an der Redaktion, neue Formen zu finden und zu erproben. Nachgelagert hat dann die lineare Programmplanung den Job, einen geeigneten Sendeplatz für die Zweitverwertung zu finden. Das kann 20:15 Uhr sein, muss es aber nicht. Damit verändern sich auch gelernte Schemata. Wo bisher ein Magazin mit vielen kurzen Beiträgen lief, kann das mal weiterhin so sein, es kann aber genauso vielleicht eine durchgehende Reportage sein.

Weil die in der Mediathek eher gesucht und gefunden wird?

defacto © HR Reportage statt Magazin: "defacto" muss sich für die Mediathek neu erfinden, um gefunden zu werden
In der Mediathek suchen die jüngeren Zielgruppen nicht primär nach "defacto"-Beiträgen oder nach regionalen Inhalten, sondern nach guten, spannenden Geschichten und nach den Themen, die sie interessieren. Wenn eine gute Geschichte aus Hessen kommt, dann gucken sie die. Und je nach Thema kann es auch Menschen in Flensburg oder Freiburg interessieren. Im Digitalen ist es also noch wichtiger, aufs Storytelling zu achten und eine starke Dramaturgie zu bauen. Die Recherche-Reportage ist hier sicher ein spannendes Genre, das gut funktioniert und in dem wir auch mal transparent machen können, wie so ein Reporter überhaupt vorgeht. Wir müssen nur ein bisschen aufpassen, dass wir nicht von einem Extrem ins andere verfallen. Im linearen Fernsehen gab es irgendwann so eine Phase der 'Magazinitis', als alle Sender auf multithematische Magazine umgestiegen sind. Ich finde es wichtig, dass wir in den Darstellungsformen abwechslungsreich bleiben. Übrigens wollen wir mit Audio ähnlich vorgehen, also journalistischen Content für digitale Audioplattformen entwickeln und im linearen Radio nachverwerten. Ein Team erarbeitet gerade eine neue Audiostrategie.

Über Gabriele Holzner

  • Seit August 2020 ist Gabriele Holzner crossmediale Programmdirektorin des Hessischen Rundfunks, seit Jahresbeginn 2021 zusätzlich stellvertretende Intendantin.

  • Die 60-jährige Münchnerin kam 2000 von ARD-aktuell zum HR, zunächst als Studioleiterin in Wiesbaden. Weitere Stationen waren Nachrichtenchefin, Leiterin des Kinder- und Familienprogramms sowie ab 2016 Fernsehdirektorin.

Im Gegensatz zum HR-Fernsehen ist die ARD-Mediathek eine weitere Plattform, die Sie nicht selbst unter Kontrolle haben. Wie bei Zulieferungen für Das Erste sind Sie auf Kooperation angewiesen. Wie funktioniert diese Zusammenarbeit ganz konkret?

Da der HR nie eine eigene Mediathek hatte, gab es für uns anfangs den Nachteil, dass wir noch keine einschlägige Erfahrung hatten. Dafür hatten wir den Vorteil, dass wir keine Inhalte und Datenbanken migrieren mussten. Wir haben hier in Frankfurt seit Kurzem ein dreiköpfiges Koordinierungsteam, das in engem Austausch mit dem Channel Management der ARD-Mediathek in Mainz steht. Das Channel Management wiederum hat Partner-Manager aufgebaut, die sich um die Kuratierung bestimmter Rubriken oder Genres kümmern und als Ansprechpartner für das föderale ARD-System da sind. Unseren eigenen HR-Channel innerhalb der ARD-Mediathek bestücken wir natürlich komplett von hier aus. Zwischen Channel Management und HR-Koordinierungsteam wird dann abgestimmt, welche unserer Inhalte auf die Startseite der Mediathek kommen, welches unserer Produkte auf den Red Button im HbbTV kommt. Mir war wichtig, dass nicht jede Redaktion aus dem HR in einen bilateralen Austausch mit dem Channel Management tritt. Das wäre ineffizient.

Welche spezifischen Kompetenzen kann der HR in die ARD-Mediathek einbringen?

Wetter vor acht © ARD/HR Das Wetter kommt aus Frankfurt: Seit 2020 betreibt der HR das Kompetenzzentrum für die ARD
Es gibt zwei Themenfelder, die uns als HR besonders wichtig sind. Seit Anfang 2020 haben wir ja das Wetter-Kompetenzzentrum der ARD hier in Frankfurt. Daraus folgt für mich, dass wir neben den aktuellen Wetterberichten tiefer und breiter in das gesamte Themenfeld Wetter und Klima einsteigen. Da liegen Themen, die sehr viele Menschen nicht nur in Hessen sehr spannend finden, die auch für die gesellschaftliche Entwicklung von enorm hohem Stellenwert sind – und weiter an Bedeutung gewinnen. Also ist es geboten, diese noch vielfältiger zu bespielen, auch in Form von Dokumentationen. Einen ähnlichen Mechanismus sehe ich für das Themenfeld Finanzen und Börsen, auch das liegt aus Frankfurter Sicht nahe. Wir sind dabei, ein crossmediales Finanz-Kompetenzzentrum für die ARD aufzubauen.

Wetter und Börse haben die Gemeinsamkeit, dass es meist um kleinteilige Zahlen und Daten geht. Sollen dieselben Redaktionen künftig auch große Dokumentationen machen?

Wenn wir über inhaltliche Schwerpunkte sprechen, dann heißt das für mich, dass wir beispielsweise einen Konnex herstellen zwischen der jeweiligen Fachredaktion im Aktuellen und der Dokumentationsredaktion, die lange Formate entwickelt. Auch hier verändert sich der Auftrag: Als HR machen wir nicht mehr Dokus über alle Themen dieser Welt, sondern fokussieren uns auf die definierten Schwerpunkte. Dort verknüpfen wir die inhaltliche Kompetenz aus dem Tagesaktuellen mit der Storytelling-Kompetenz aus dem Dokumentarischen. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir uns auch in der ARD fokussieren müssen. Wir sind neun Landesrundfunkanstalten, die aus der Historie heraus eigenständige Unternehmen sind – jeder kann und macht alles. Je wichtiger die digitale Welt wird, desto sichtbarer wird aber gleichzeitig, dass wir vieles doppelt und dreifach machen, weil es in einer Mediathek oder Audiothek eben direkt nebeneinandersteht. Das muss unsere User irritieren. Also ist es nicht nur aus finanziellen Gründen nötig, unsere Kompetenzen zu bündeln und vernünftig zu strukturieren, sondern auch mit Blick auf Sichtbarkeit und Auffindbarkeit sinnvoll.

"Es gibt uns nicht, weil wir so tolle Anstalten sind, sondern weil wir einen gesellschaftlichen Auftrag haben, der immer wieder modernisiert werden muss"
Gabriele Holzner 

Heißt das auch, dass nicht mehr jede ARD-Anstalt Unterhaltungsshows oder fiktionale Serien produzieren sollte?

In der Tat sind ja die Anforderungen an die sogenannte große Unterhaltung oder an Quizshows recht spezifisch. Aus meiner Sicht wäre es sinnvoll, dass das nicht neun Landesrundfunkanstalten machen, sondern vielleicht zwei oder drei, die ein besonderes Know-how aufgebaut haben. Bei der Fiktion ist es etwas komplexer, weil wir ja sinnvollerweise Geschichten mit einer regionalen Farbe erzählen. Aber auch da ließen sich bei genauerem Hinsehen gewisse Schwerpunkt-Kompetenzen ausmachen.

Das klingt so, als hätten Sie Sympathien für die Denkrichtung von SWR-Intendant Kai Gniffke, der dem Saarländischen Rundfunk kürzlich eine engere Zusammenarbeit vorschlug und dafür heftigen medienpolitischen Gegenwind kassierte.

Gabriele Holzner © HR/Katrin Denkewitz "Nicht treiben lassen": Gabriele Holzner will, dass die ARD ihre Zukunft aktiver selbst gestaltet
Ich finde diese Diskussion ebenso spannend wie wichtig und sage Ihnen gern meine ganz persönliche Meinung dazu: Der grundsätzliche Gedanke von Kai Gniffke ist absolut richtig – er stellt nämlich die Frage: Wann, wenn nicht jetzt sollten wir mal über Tabus nachdenken oder vielleicht sogar ein paar Tabus über den Haufen werfen? Jenseits der interessengeleiteten Medienpolitik gibt es Fragestellungen, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, und dazu gehört auch, warum es noch neun Landesrundfunkanstalten braucht – die regionale Vielfalt und Verankerung ist ein guter Grund. Natürlich möchte ich, dass der Hessische Rundfunk ein eigenständiger Sender bleibt, und das sollte auch unser Ziel sein. Zumal sich die Menschen in Hessen nach wie vor mit uns identifizieren. Aber zugleich darf man mit den alten, historisch gewachsenen Antworten nicht sofort jede Diskussion ersticken. Wir leben auch von der Akzeptanz – und die erhöht sich nicht mit Tabus, die sich hier und da möglicherweise überlebt haben. Wenn ich mich also dafür stark mache, dass nicht jede Anstalt alles machen sollte, dann tue ich das ja, weil ich davon überzeugt bin, dass eine Fokussierung auf Kompetenzen unser inhaltliches Angebot verbessert. Das ist unser Daseinszweck, daran müssen wir uns messen lassen. Es gibt uns nicht, weil wir so tolle Anstalten sind, sondern weil wir einen gesellschaftlichen Auftrag haben, der immer wieder modernisiert werden muss. So entsteht Akzeptanz. Wer nicht mit der Zeit gehen will, geht mit der Zeit. Ich möchte, dass wir das ein Stück weit selbst gestalten und uns nicht treiben lassen von Medienpolitikern und einzelnen Medien. Und ja, da müssen wir uns fragen: Gibt es eigentlich neben Fusionen andere sinnvolle und praktikable Formen der engeren Zusammenarbeit zwischen unseren Häusern?

Stimmt es, dass Sie nebenbei einen Lehrgang in Organisationsentwicklung machen?

Ja, ich mache seit zwei Jahren eine berufsbegleitende Ausbildung zur systemischen Organisationsentwicklerin und Change-Beraterin. Als Programmdirektorin sehe ich mich in der Rolle derjenigen, die gewaltige Veränderungsprozesse steuern muss. Steuern heißt für mich nicht "ich weiß, wo's langgeht", sondern ich möchte meinen Teams ermöglichen, ihre eigenen Veränderungsprozesse zu gestalten und ihre Wege in die Zukunft zu finden. Veränderung kann man nicht von oben verordnen. Unser Job als Geschäftsleitung ist es, Visionen zu entwickeln und Leitplanken zu setzen. Dabei ist es durchaus eine Kunst für sich, innerhalb einer gewachsenen Organisation grundsätzlichen Veränderungswillen zu etablieren und die Prozesse so zu gestalten, dass möglichst viele mitkommen können und wollen. Ich selbst habe zum Beispiel gelernt, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Ich muss sie nicht alle teilen, ich muss sie auch nicht jeweils gut finden, aber jede Sichtweise hat auch ihre Berechtigung. Ich behaupte mal, dass ich dank der Fortbildung nicht mehr sofort genervt bin, wenn jemand was anderes möchte als ich. (lacht)

"Ich glaube, dass mein gelebtes Selbstverständnis als Change Managerin dabei helfen könnte, in Zeiten komplexer Auftrags- und Strukturdebatten einen offenen, unverstellten Dialog zu führen"
Gabriele Holzner 

Die Amtszeit von HR-Intendant Manfred Krupp endet im Februar 2022. Werden Sie sich um seine Nachfolge bewerben?

Meine Grundhaltung im Berufsleben war immer, dass ich mich neuen Herausforderungen gestellt habe, wenn sie auf mich zugekommen sind. Nun kommt dieses Thema beim Blick in den Kalender immer näher und ich werde mich dieser möglichen Herausforderung stellen. Ich habe mir sehr selbstkritisch die Frage gestellt, ob diese Rolle zu mir passen würde. Als Programmdirektorin habe ich ja vor allem eine Aufgabe nach innen wahrzunehmen und eher indirekt – über unsere Produkte – nach außen. Im Vergleich dazu muss ein Intendant, eine Intendantin viel stärker auch persönlich nach außen wirken. Ich glaube, dass mein gelebtes Selbstverständnis als Change Managerin dabei helfen könnte, in Zeiten komplexer werdender Auftrags- und Strukturdebatten um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk einen offenen, unverstellten Dialog zu führen – nach innen, um den Wandel zu gestalten, und nach außen, um Verständnis zu erzeugen.

Frau Holzner, herzlichen Dank für das Gespräch.

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