Fast fünf Monate ist es her, dass Ulrike Demmer mit Ach und Krach und möglicherweise rechtswidrig zur Intendantin des RBB gewählt wurde. Die frühere Vize-Regierungssprecherin muss seither unter erschwerten Bedingungen den von Patricia Schlesinger hinterlassenen Schlamassel wegräumen. Dabei hätte es gut sein können, dass diese Aufgabe Jan Weyrauch zufällt – ja, wenn er, der einzige männliche Bewerber und Favorit der Belegschaftsvertretung, damals im Juni keine 24 Stunden vor der Intendantinnenwahl einen Rückzieher gemacht hätte mit einer Begründung, die mit seinen Gehaltsvorstellungen zu tun hatte.

So überraschend er auf die RBB-Kandidatenliste gekommen war, so plötzlich kehrte Jan Weyrauch also um auf seinen Posten als Programmdirektor bei Radio Bremen, als wäre nichts gewesen. Doch jede Menge Fragen sind geblieben.

Die Frage zum Beispiel, ob er seine Bewerbung beim RBB im Nachhinein für falsch oder richtig hält. Ob er den Rückzug bedauert oder im Gegenteil froh ist, dass der Kelch an ihm vorbeizog. Ob sich seine Meinung über Spitzengehälter im Öffentlich-Rechtlichen geändert hat. Und natürlich steht die Antwort aus, warum er überhaupt wegwollte aus Bremen, wo er seit zwölf Jahren für das Programm der im ARD-Vergleich kleinsten Rundfunkanstalt verantwortlich ist.

Oder wie Jan Weyrauch Radio Bremen scherzhaft nennt: „die neuntgrößte ARD-Anstalt“ (haha, es gibt nur neun).

Als gebürtiger West-Berliner, Jahrgang 1968, ist er freilich ganz andere Dimensionen urbanen Lebens gewöhnt. Seit er nach der Journalistenausbildung an der DJS in München eine Karriere als Reporter und Moderator beim SFB in Berlin begann und von 1993 an die Jugendwelle Radio Fritz mit aufbaute, ist ihm das Innenleben der aktuell sechstgrößten ARD-Anstalt aka RBB wohlbekannt. 2001 wechselte er zum auch nicht gerade so kleinen Hessischen Rundfunk, wo er das Radio-Fritz-Pendant YOU FM auf den Weg brachte und leitete, um dann 2011 in der Programmdirektion von Radio Bremen die nächste Karrierestufe zu erklimmen. Danach kommt eigentlich nur noch die Intendanz.

Jan Weyrauch © Radio Bremen / Andreas Weiss
Dass es um seine Bewerbung in Berlin-Brandenburg so einen Öffentlichkeitssturm geben würde, hätte Jan Weyrauch nicht gedacht, sagt er nun mit mehrmonatigem Abstand. Und man merkt ihm dabei an, dass er am liebsten einen Bogen um dieses Thema schlagen würde. Für ihn ist es „Schnee von gestern“. Viel lieber spricht er über seine Arbeit bei Radio Bremen.

Also gut. Er kommt zum „Nahaufnahme“-Gespräch sehr beschwingt aus einer ARD-Schalte. 100 Jahre Loriot stehen an, Pappa ante portas sozusagen. Einer der größten Humoristen im Land war eine Zeitlang eng verbunden mit Radio Bremen. Vicco von Bülow alias Loriot produzierte in den 1970ern seine berühmtesten Sketche und Cartoons in der Stadt an der Weser. Ihm zu Ehren hauen die Bremer nun am kommenden Montag, 6. November, alles raus, was in den Archiven schlummert.

Als Doku „Loriot 100“ zur Primetime im Ersten (gemeinsam mit dem SWR produziert). Als Podcast. Und natürlich wird es in der Mediathek auch die Loriot Originals zu sehen geben – übrigens ohne Hinweistafeln, die sensible Gemüter vor eventuell Anstößigem warnen sollen, was bei Loriot (anders als bei Otto und Harald Schmidt) offenbar nicht notwendig ist. Jedenfalls ist Jan Weyrauch nichts aufgefallen, worauf man hinweisen müsste – „höchstens davor, dass wirklich die ganze Familie lacht.“

Natürlich sei Loriot, der 2011 starb, ein Produkt seiner Zeit, fährt der Familienvater fort, aber selbst seine beiden Kinder, elf und dreizehn, die sonst alles doof finden, worüber Mama und Papa sich amüsieren, könnten über Loriot lachen: „Seine Sketche passen heute noch.“ Wie dessen Blick auf die Menschen, ehrlich und selbstironisch, seine Gültigkeit behalten habe, findet er echt erstaunlich: „Es ist fast alles gelungen.“

Der Thementag Loriot ist für Radio Bremen eine „Riesennummer“ und Weyrauchs Riesenstolz nicht zu überhören. Allzu viele Gelegenheiten, an prominenter Stelle aufzuscheinen, gibt es ja nicht mehr. Die Loriot-Figur Opa Hoppenstedt würde sagen: Früher war mehr Lametta.

Wo sind sie geblieben, die neuen Loriots und Rudi Carrells von Radio Bremen? Oder Formate wie der „Beat Club“, der einst eine Revolution in der Unterhaltung war? Diese gloriosen, linearen Zeiten sind vorbei. Dockten in jüngerer Zeit dennoch Nachwuchstalente an, dann hielt es sie nicht lang.

 

"Wir sind im ARD-Vergleich die Kleinsten, aber dafür groß, wenn es ums Vernetzen oder Kreativität geht."

 

Das originäre Bremer, pardon Nord-Bremer Gewächs Jan Böhmermann zum Beispiel verließ im Dezember 2013 nach drei „Lateline“-Staffeln das Haus an der Weser endgültig Richtung ZDF, das nun Freude, aber auch Ärger mit ihm hat. Weyrauch wäre froh, wenn er ihn hätte. Noch zu Wellenchef-Zeiten bei YOU FM entdeckte er Böhmermann. Zu seinem Bedauern konnten sie ihm in der ARD nicht das Gleiche bieten wie das ZDF. Jetzt simsen die beiden Jans halt nur öfters miteinander, wo mal wieder was gemeinsam gehen könnte.

Dass da aus Bremen nichts richtig Großes mehr am laufenden Band kommt, hängt, wenn man Jan Weyrauch richtig versteht, nicht an kreativem Mangel. „Wir sind im ARD-Vergleich die Kleinsten, aber dafür groß, wenn es ums Vernetzen oder Kreativität geht“, findet er. Die Einsicht, dass sie „nicht mehr alles machen wollen und können“, führte ihm zufolge zu einer „sehr klaren Positionierung und Fokussierung“, die innerhalb der ARD als vorbildlich gelte.

So hätten sie sich bei Radio Bremen gefragt: Wofür stehen wir? Wo liefern wir mehr, als wir müssten? Wo überlassen wir dafür anderen das Feld wie zum Beispiel bei der Samstagabendshow oder bei Themen wie Verbraucher, weil es andere einfach besser können? Und dann zählt der Programmchef auf, wo sein Haus mit den „sehr kreativen Leuten“ Akzente setzt:

Die mit dem Grimme-Preis doppelt dekorierte Comedy „Kroymann“ im Ersten gehört dazu ebenso wie die Sportsatire „Wumms“ auf YouTube; die bei Funk etablierte Reportage-Marke „Y-Kollektiv“, die jetzt in der ARD-Mediathek eine größere Zielgruppe erreicht; das crossmediale Angebot Bremen Next quasi als Pendant zum „Beat Club“ und „What the Fact Bremen“. Letzteres war als TikTok-Experiment mit regionalen News zu Weyrauchs Erstaunen so erfolgreich, dass er das Problem gehabt habe, das Projekt nach der dreimonatigen Testphase weiter zu finanzieren. In der Pipeline ist außerdem ein tägliches Format mit News aus Bremen, das sie sowohl linear als auch in Verknüpfung mit Sprachassistenten wie Alexa denken. Der Programmchef ist überzeugt: Die Technik aus USA wird sich im Alltag auch hierzulande durchsetzen: „Bei Podcasts hat es in Deutschland auch etwas gedauert. Deshalb müssen wir vorbereitet sein.“

Weyrauchs Marschrichtung ist offensichtlich: eher jung, eher digital. Als er 2011 bei Radio Bremen anfing, knöpfte er sich die Etats vor: Für welche Zielgruppe wird wie viel ausgegeben? Zur Veranschaulichung ließ er eine Landkarte mit größeren und kleineren Geldsäcken erstellen. Das Ungleichgewicht fand er eindrucksvoll: Für ältere und bildungsnahe Schichten wurde deutlich mehr Beitragsgeld ausgegeben als für jüngere und bildungsfernere. Also begann er umzuverteilen.

Was er vermisst und wo er Radio Bremen früher mal besser aufgestellt sah, ist das Thema Radio-Comedy. Das liegt ihm zufolge an den horrenden Summen, die Spotify & Co. für Podcasts zahlen und wo man als einzelne Anstalt mit mithalten könne. Also soll ARD-weit gepoolt werden. Mit seiner WDR-Kollegin Andrea Schafarczyk teilt sich Jan Weyrauch die Patenschaft für Kooperationen der jungen Wellen. Den Intendantinnen und Intendanten wollen sie Ende November Modelle vorlegen und im besten Fall auch Köpfe, die man Richtung Humor gemeinsam aufbauen könnte. Das ist Weyrauch nicht zuletzt auch ein persönliches Anliegen. Er kommt ja vom Radio.

Bei Radio Fritz machte er lange eine Morningshow – wo er doch eigentlich lieber zum Fernsehen gegangen wäre. Weil er aber damals auf der Journalistenschule bei der Vergabe von Pflichtpraktika im TV leer ausging, kam es anders und dennoch gut. Denn beim Radio konnte er seiner Leidenschaft Musik weiter nachgehen. Das selber Musikmachen schon zu Schülerzeiten (die Band hatte den interessanten Titel „Dying Man’s Dinner“) hat sich Jan Weyrauch bis ins Erwachsenenalter erhalten. Sein privates Band-Projekt nennt sich „Bremish“. Bekannte Songs texten sie um auf Bremen. Weil sie erfolgreich sein wollen, singt der Bremer Stadtmusikant nicht. Er spielt E-Gitarre.

 

"Ich bin froh, dass ich gerade wieder im ruhigeren Fahrwasser bin."

 

Man kann also mit Fug und Recht sagen: Jan Weyrauch ist an der Weser voll integriert. Für seinen Satz „Radio Bremen ist für diese Region genauso wichtig wie Werder Bremen. Wir sind nur nicht so abstiegsgefährdet“ müssten sie ihm eigentlich ein Denkmal aufstellen, so wie sie es bei Loriot mit einer Bronzereplik seines berühmten Sofas vor dem Funkhaus getan haben. Auch Loriot kam übrigens gebürtig aus Weyrauchs Ecke, aus Brandenburg. Das Vermissen der Muttermetropole Berlin, die Weyrauch „natürlich cool“, aber auch „viel anstrengender“ findet, halte sich „in sehr gut aushaltbaren Grenzen“. Er genieße Bremen sehr, sagt er sehr bestimmt.

Nur warum wollte er dennoch zurück, als Intendant des RBB?

Weil ihn die Aufgabe, einen ihm gut bekannten Sender aus der Krise zu führen, „sehr gereizt“ hätte, antwortet Weyrauch. Mit 55 sei er in einem Alter, „wo man so einen Sprung machen kann“.

Als der Verwaltungsrat dann aber eine Gehaltsobergrenze von 180.000 bis 230.000 Euro für das RBB-Oberhaupt in die Debatte einbrachte (die Interimsintendantin Katrin Vernau erhielt 295.000 Euro), wollte Weyrauch nicht mehr springen und stieg aus dem Wahlprocedere aus. In der Öffentlichkeit blieb haften: Da will sich ein Mann (der bei Radio Bremen 2022 um die 214.000 Euro inkl. sonstiger Leistungen verdiente) nicht unter Wert verkaufen, während seine drei Mitbewerberinnen (neben Ulrike Demmer: Tech-Managerin Heide Baumann und Digital-Chefredakteurin Juliane Leopold von ARD-Aktuell) genügsamer sind.

Jan Weyrauch © Radio Bremen / Andreas Weiss
Der Wahl-Aussteiger will die öffentliche Diskussion nicht so empfunden haben: „Das hatte nichts mit Mann oder Frau zu tun“, sagt er. Es ging ihm „auch um die Folgewirkungen“.

Seine Argumentation: Wenn man das Intendantengehalt so deutlich absenken will, habe das zwangsläufig auch Folgen für die anderen Führungskräfte. In der Konsequenz müsste man irgendwann auch an den Tarifvertrag ran, damit die Verhältnisse noch stimmen. Das wiederum berge die Gefahr, dass die besten Kräfte nicht zu halten, geschweige denn zu bekommen sind, was für einen Sender in der Krise ohnehin extrem schwierig sei.

Ob Ulrike Demmer ähnliche Gedanken umtrieben? Man weiß es nicht. Ihr vereinbartes Gehalt: 220.000 Euro in der ersten Hälfte ihrer Amtszeit, danach rund 230.000. Also nur ein bisschen mehr, als Jan Weyrauch als Programmdirektor bei Radio Bremen bekommt. Das RBB-Beben hat unterdessen etwas in Gang gesetzt: Plötzlich wird ARD-weit über Verzicht diskutiert. Beim Hessischen Rundfunk und Bayerischen Rundfunk will die Chefetage künftig auf Gehaltserhöhungen verzichten. Gleiches hatte zuvor schon Weyrauchs Chefin bei Radio Bremen, Yvette Gerner, angekündigt.

Auch die drei Direktoren des Unternehmens (neben Jan Weyrauch sind das Brigitta Nickelsen und Jan Schrader) wollen freiwillig verzichten – allerdings nur auf die im Tarifvertrag vereinbarte Einmalzahlung in vierstelliger Höhe. Jan Weyrauch erklärt das wieder mit: den Folgewirkungen auf das Tarifgefüge. Weil die Gehaltserhöhung von 2,8 Prozent aber mit sechsmonatiger Verzögerung umgesetzt werde (was auch AT-Kräfte betrifft), würde das den Sender Geld sparen.

Bei allem Verständnis für die tarifabhängige Vergütungsarithmetik: In einer Zeit, wo RB-Intendantin Yvette Gerner nach ihrer Wiederwahl im September ankündigte, dass ihr Sender auch künftig weiter sparen müsse . . . Nein, man versteht es doch nicht.

Seinen Rückzug von der RBB-Wahl will Jan Weyrauch nicht bedauert haben. Nein, überhaupt nicht, auch weil er mit Freude gesehen habe, mit welcher Erleichterung das in Bremen aufgenommen wurde. Es sei richtig gewesen zu sagen, ich kann mir so was vorstellen, ich habe Lust auf den Job. „Da ist nichts Falsches dran." Genauso habe er Lust, bei Radio Bremen weiter Programm zu machen.

Fragt man den glühenden Werder-Fan zum Schluss, ob er es noch mal wagen würde, sich für eine Intendanz oder einen anderen attraktiven Leitungsposten weg aus Bremen zu bewerben, antwortet er, dass könne er nicht sagen: „Jetzt habe ich es nicht vor. Ich bin froh, dass ich gerade wieder im ruhigeren Fahrwasser bin.“

Sein Vertrag als Programmdirektor läuft noch bis 2026. Er würde darüber hinaus gerne bleiben, „wenn mich Radio Bremen denn behalten will“. Seine Familie liebe es hier, „und ich auch“.

Dann schließen wir also frei nach Loriot: Ein Leben ohne Bremen ist möglich, aber momentan für Jan Weyrauch sinnlos.

Am 6. November läuft um 20.15 Uhr im Ersten die von Radio Bremen und SWR produzierte Doku „Loriot 100“. Im Anschluss, um 21.45 Uhr, folgt Loriots größter Filmhit „Pappa ante Portas“. In der ARD-Mediathek finden sich jede Menge Loriot-Klassiker, auch in der Hörfassung.