Wenn Eulen, Dachse und Feldhamster Fernbedienungen benutzen könnten, wäre ihr Lieblingssender wahrscheinlich ZDFneo. Da laufen im Spätprogramm einfach die heißesten europäischen Lizenzserien, am Freitag zum Beispiel die deutsche Free-TV-Premiere der britischen Dramedy "Pure", in der Hauptprotagonistin Marnie in jeder Alltagssituation an Sex denken muss. "Das ist wie bei 'Sixth Sense'. Nur dass ich keine toten Menschen sehe, sondern nackte", erklärt sie dem Publikum ihre Zwangsstörung – und macht dann das, was immer erstmal nahe liegt, wenn man Probleme nicht in den Griff kriegt: weglaufen.

Natürlich ist die Flucht aus der schottische Heimat nach London, wo sie bei einer Schulfreundin unterkommt, auch keine Lösung. Aber weil sich meine Nachtaktivität – im Gegensatz zu jener der eingangs genannten Fauna – momentan arg in Grenzen hält, kann ich Ihnen leider nicht verraten, wie es weitergeht. Nach der ersten Folge war's ja auch schon 0.10 Uhr – und noch knapp zwei Stunden durchzuhalten, um alle Folgen zu sehen, definitiv keine Option mehr.

Staffelfinale um 2 Uhr nachts

In Mainz scheint man das etwas anders zu sehen. Zumindest ist die Programmplanung auf dem Lerchenberg großer Fan davon, komplette Serien in einem Stück hintereinander wegzusenden. Der BBC-Erfolg "Years and Years" lief bei ZDFneo zu Beginn der Jahres glücklicherweise früher, nämlich bereits ab 20.15 Uhr. Weil die sechs Episoden aber jeweils eine Stunde dauerten, war erst gegen 2 Uhr in der Nacht Schluss. Allen, die es tatsächlich bis dahin vor dem Fernseher aushielten, gebührt gleichzeitig mein Respekt und Mitleid. Immerhin ist die Dystopie, in der eine britische Großfamilie durchs stetig schlimmer werdende Weltgeschehen geschleudert wird, schon episodenweise nur schwer verdaulich. (Zum Finale ließen sich trotzdem noch rund 60.000 Zuschauerinnen und Zuschauer darauf ein.)

Pure © ZDF / Rory Mulvey In "Pure" flieht Marnie (Charly Clive) vor ihrer Zwangsstörung nach London, aber die kommt leider mit.

Für die noch vor Corona beauftragte Eigenproduktion "Sløborn", in der eine weltweit grassierende Grippe das Leben auf einer Nordseeinsel durcheinander wirbelt, hatte sich der Sender im Sommer des Vorjahres immerhin zwei Abende Zeit gelassen – und fuhr damit nach der endgültigen Gewichtung ganz ordentliche Quoten ein. Also: ein Erfolgsmodell?

ZDF-Programmdirektor Norbert Himmler erklärte später im DWDL.de-Interview auf die Frage, warum man eine Produktion wie "Sløborn" so schnell versende: "Back-to-back-Programmierungen von Serien sind inzwischen State-of-the-Art." Was aus Sicht eines früheren Programmplaners zwar stimmen mag, aber schon in der Art der Formulierung nicht unbedingt Publikumsnähe demonstriert.

Serien bingen mit fester Anfangszeit?

Auch wenn Verantwortliche gerne so tun: Komplette Serienstaffeln hintereinander weg zu zeigen, ist kein Service am Zuschauer bzw. an der Zuschauerin. Und erst recht kein Muss, bloß weil die Welt durch den Siegeszug der Streamingdienste das "Bingen" in ihren aktiven Wortschatz aufgenommen hat. Mag sein, dass Menschen Serien gerne ohne Unterbrechung gucken wollen, bis ihnen die Augen flimmern. Der Gag bei Netflix, Prime & Co. besteht aber ja darin, dass man sich Tag und Zeit aussuchen kann, um sich dem selbst gewählten XXL-Entertainment hinzugeben. Anders als im linearen Fernsehen, das eine Gewohnheit auf sich zu übertragen versucht, für die das Medium eher nicht gemacht ist.

Ist doch kein Problem, sagen Sie, kann man ja später einfach in der Mediathek ansehen? Genau darauf zielen die Sender wohl ab.

Years and Years © ZDF / Matt Squire "Years and Years" erzählt davon, wie sich die britische Großfamilie Lyons durch politisch unruhige Zeiten kämpfen muss.

Am vergangenen Wochenende lief im Ersten die deutsche Free-TV-Premiere der norwegischen Reihe "Beforeigners": Im Oslo der Jetztzeit tauchen Nacht für Nacht Zeitmigrantinnen und -migranten aus Epochen der Vergangenheit auf, und die Gesellschaft muss lernen, sich mit ihnen und ihrer Lebensweise zu arrangieren, während die beiden Hauptcharaktere einen transtemporalen Mordfall lösen.

Das ist eine originelle Idee, stellenweise ziemlich großer Quatsch – aber auf jeden Fall ein ungewöhnlicher Programmbeitrag. Zumindest für alle, die am vorvergangenen Samstagspätabend ab 23.35 Uhr noch Lust hatten, bis 4.20 Uhr aufzubleiben, um das Staffelfinale zu erleben. Was nicht unbedingt nahe liegt, wenn am nächsten Tag einfach alle Episoden auf einen Schlag in der ARD Mediathek abrufbar sind.

Linear vor die Füße gewürgt

Ausnahmen sind das schon längst nicht mehr: Wenn sich in der britischen Sitcom "Dead Pixels" Anfang April eine der Gaming-Sucht verfallene Clique durch das Online-Spiel "Kingdom Scrolls" kämpft und dieser Leidenschaft sämtliche Ereignisse im realen Leben unterordnet, dann ist es bei ZDFneo 23.30 Uhr am Freitagabend. (Alle in der Nacht gezeigten Folgen stehen ab Samstag online.) Die französische Produktion "Derby Girl", in der eine ehemalige Profi-Eiskunstläuferin sich einen lange gehegten Traum zu verwirklichen sucht, teilt Ende des Monats das gleiche Schicksal.

Keine dieser Programmierungen zielt mehr darauf ab, eine Serie im klassischen Fernsehen ihr Publikum finden zu lassen. Stattdessen geht es darum, sich direkt auf die Online-Auswertung zu konzentrieren, um Netflix, Prime und Disney+ zumindest ein bisschen Contra zu geben. (Was nur halb so gut funktioniert, wenn die meisten Zukäufe nur in der synchronisierten Fassung, nicht aber im Original angesehen werden können.)

Dead Pixels © ZDF / Mister Whisper / Channel 4 Zocken hat Vorrang: Meg (Alexa Davies) fühlt sich bei "Dead Pixels" online wohler als in der anstregenden Realität.

Ist das schlimm? Natürlich nicht – wenn man's hinnimmt, dass das ZDF seinem Publikum vier Staffeln des großartigen "Breaking Bad"-Prequels "Better Call Saul" in den Nächten von Freitag auf Samstag ab 0.50 Uhr linear vor die Füße würgt und nach dem Start im April dann Ende August gegen 2.30 Uhr damit durch ist, wie im vergangenen Jahr geschehen.

Erst noch einen "Wilsberg" zeigen!

Ginge das auch anders? Klar doch! Um beispielsweise für "Pure" einen besseren Sendeplatz zu finden, hätte man sich bei ZDFneo allerdings dazu durchringen müssen, in der vergangenen Woche zur Werktags-Primetime nicht unbedingt "Die letzte Spur" von 2018, "Wilsberg" von 2012, "Kap der Angst" von 1991, "Ein starkes Team" von 2017, "Marie Brand" von 2015 und "Inspektor Barnaby" von 2001 zu wiederholen. Höchstwahrscheinlich wäre ein solcher Entschluss zu Gunsten einer unbekannte Serie mit schwierigem Thema aber nicht mit besonders guten Quoten belohnt worden. (Und an denen liegt dem Sender halt immer noch mehr als an einem vielfältigen Spartenangebot.)

Beim ARD-Nachbarn One, der neue Serien zumindest ab und an zu nachvollziehbaren Zeiten zeigt, kann man ein Lied davon singen. Auch wenn die Wiederholung von "Beforeigners" im April in erster Linie der Tatsache geschuldet sein dürfte, dass die genau dann auslaufende Auswertung in der Mediathek so von Neuem angestoßen werden kann.

Nun mag es richtig sein, dass vor allem jüngere Bewegtbild-Fans davon gar nichts mitbekommen, weil sie den linearen Kanälen zu Gunsten der zeitversetzten Nutzung ohnehin längst den Rücken gekehrt haben. Dann stellt sich allerdings die Frage, wozu die Öffentlich-Rechtlichen überhaupt noch Sender wie ZDFneo und One brauchen, wenn diese vorrangig als Zweitverwertungsstation der Inhalte aus dem Hauptprogramm und zur Krimiarchivauswertung gehalten werden.

Tom Buhrows Zukunftsprognose

In seiner Grundsatzüberlegung zur künftigen Rolle beitragsfinanzierter Programmanbieter hat der ARD-Vorsitzende Tom Buhrow in der vergangenen Woche (warum auch immer in der "FAZ") skizziert, wie schwer es "unzähligen Unternehmen und Organisationen" falle, wenn sie im Zuge der Digitalisierung "noch das alte Geschäft bedienen und zugleich das neue Geschäft aufbauen" müssen. Damit meinte er vor allem den eigenen Senderverbund – und plädierte angesichts der sich stark verändernden Sehgewohnheiten für "eine einzige große öffentlich-rechtlichen Mediathek". Denn, so Buhrows Prognose: "Spartenkanäle im linearen Fernsehen sind 2030 größtenteils Geschichte und werden in dieser Mediathek aufgegangen sein."

Heike Raab, Koordinatorin der Rundfunkkommission der Länder, pflichtete dem bei: "Wir müssen weg von einer durch die Brille der linearen Verbreitung vorgeprägten Sichtweise mit starren gesetzlichen Festlegungen bis hin zu den Namen der einzelnen Programme." Die Entscheidung, ob es künftig Spartenkanäle brauche, solle in der Verantwortung der Sendergruppen liegen.

Warum so lange abwarten?

Ah ja, okay. Gegenvorschlag: Wir warten gar nicht erst so lange wie Buhrow sagt. Und machen das exakte Gegenteil von dem, was Raab vorschlägt – weil man in der Rundfunkkommission ja eigentlich wissen müsste, wie gerne sich ARD und ZDF an einmal durchgesetzten Programmen festkrallen, wenn die dabei helfen, linear erzielte Marktanteile des eigenen Senderverbunds möglichst lange abzusichern. Notfalls auch, indem originäre Inhalte zu Gunsten berechenbarer Quotenerfolge selbst in der Sparte in die Nacht geschoben werden.

Ohne One und ZDFneo können sich die Eulen, Dachse und Feldhamster auch das Training mit der Fernbedienung sparen und ihre neue Lieblingsserie nachts einfach direkt in der öffentlich-rechtlichen Supermediathek bingen, die jetzt sofort – und nicht erst in zehn Jahren – über ein deutlich aufgestocktes Programmbudget verfügen könnte.

Irgendwie zwischen "Nachtmagazin" und "Tierärztin Dr. Mertens" bzw. "heute journal Update" und "Rosenheim Cops" wird in den Hauptprogrammen von ARD und ZDF ja wohl noch ein Plätzchen übrig sein, um so eine lästige Free-TV-Premiere einer europäischen Serie unterzubringen, bevor sie online geht. Kann nicht mehr lange dauern bis solche Night-to-Morning-Programmierungen bestimmt State-of-the-Art sind.

Und damit: zurück nach Köln.

Alle Episoden von "Beforeigners" sind in der ARD Mediathek abrufbar; die komplette "Push"-Staffel steht in der ZDF Mediathek. ZDFneo wiederholt "Years and Years" ab 24. April – um 2.55 Uhr in der Nacht.